Jüdisches Leben in Deutschland: Traumatisches Klima

Der Massenmord an der israelischen Zivilbevölkerung hat enorme psychosoziale Folgen für Shoa-Überlebende. Für sie wird der Schaden irreparabel sein.

Zwei Menschen schauen sich Fotos der entführten Geiseln an.

In der Düsseldorfer Synagoge: Fotos mit den von der Hamas entführten Israelis Foto: Roland Geisheimer/attenzione/Agentur Focus

Israel hat seit dem Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober, dem wohl verheerendsten Tag in der 75-jährigen Geschichte des Landes und dem mörderischsten Tag für Jüdinnen und Juden seit der Shoa, ein psychisches Trauma erlitten. Die Bilder und Zeugnisse über den Mord an israelischen Zi­vi­lis­t:in­nen sowie die weltweiten antisemitischen Demonstrationen und Angriffe wirken auch außerhalb Israels auf die jüdische Community. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sieht darin eine nie zuvor erlebte Zäsur für das jüdische Leben in Deutschland nach 1945. So haben sich für die ZWST nach dem 7. Oktober zwei Aufgabenbereiche ergeben, sagt Direktor Aron Schuster der taz: Zum einen werde die Zivilbevölkerung in Israel unterstützt. „Zum anderen konzentrieren wir uns darauf, die eigene jüdische Community psychosozial zu unterstützen“, so Schuster.

Wie enorm die psychologische Belastung ausfällt, lässt sich bereits an der erhöhten Nachfrage bei der Beratungsstelle Ofek für Betroffene antisemitischer Gewalt und Diskriminierung erkennen. Seit dem 7. Oktober hat sich der Bedarf laut Leiterin Marina Chernivsky im Vergleich zu den vergangenen Monaten verdreizehnfacht. Um dies aufzufangen, hat Ofek seine Beratungszeiten verlängert, regelmäßige sogenannte Safer Spaces zum Austausch sowie Supervision und Beratung für den Schulkontext eingerichtet. Psychologische Unterstützung wird zudem in Deutsch, Hebräisch, Russisch und Englisch angeboten.

Für die jüdische Community komme der psychologische Druck aus zwei Richtungen, erklärt ZWST-Direktor Schuster: „Jüdinnen und Juden müssen die Situation von Krieg und Terror verarbeiten und gleichzeitig mit einer realen Gefährdung und Bedrohung in Deutschland umgehen.“ Veranstaltungen werden abgesagt, die Synagoge gemieden, jüdische Symbole versteckt. Eltern fürchten, ihre Kinder in die jüdische Schule zu schicken. „Angst haben auch Eltern, deren Kinder nicht-jüdische Schulen besuchen. Hier fürchten sie, dass ihre Kinder unmittelbar mit Antisemitismus konfrontiert werden“, sagt Schuster.

Aron Schuster, Direktor der ZWST

„Jüdisches Leben findet aktuell ausschließlich hinter Polizisten mit Maschinenpistolen, hinter eigenen Sicherheitskräften und zentimeterdickem Panzerglas statt“

Jüdinnen und Juden ziehen sich in eigene Räume zurück, isolieren sich. Schuster skizziert ein düsteres und beunruhigendes Bild für das derzeitige jüdische Leben, wenn er sagt, dass dieses „aktuell ausschließlich hinter Polizisten mit Maschinenpistolen, hinter eigenen Sicherheitskräften und zentimeterdickem Panzerglas“ stattfinde. Das in den letzten Jahren oft zitierte sichtbare, vielfältige jüdische Leben gebe es in dieser Form aktuell nicht mehr.

Nonverbal über Traumata sprechen

Wer verstehen möchte, auf welche Erinnerungen die Bilder des Hamas-Massakers bei Überlebenden und ihren Nachkommen hier in Deutschland prallen, muss Kurt Grünberg fragen. Grünberg ist Psychoanalytiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Er forschte zur transgenerationalen Weitergabe extremen Traumas von Überlebenden der Shoa an deren Kinder, die zweite Generation, und entwickelte in diesem Zusammenhang das Konzept des szenischen Erinnerns der Shoa. Demnach lassen sich die Verfolgungserfahrungen der Überlebenden weniger in ihrem Erzählten als im Umgang miteinander, in Beziehungen, in Begegnungen zwischen Menschen erfassen. Die Traumatisierung wird „szenisch“ erinnert und weitergegeben.

Denn anders als viele Jahrzehnte behauptet, schwiegen die Überlebenden der Shoa im Land der Täter nur vermeintlich. „Der Schmerz über den Verlust der eigenen Eltern, der Geschwister oder gar Kinder war so groß, dass Überlebende weder sich noch ihre Kinder damit konfrontieren wollten, sie suchten sie davor zu schützen“, sagt Grünberg der taz. „Eigentlich ‚sprechen‘ Überlebende ständig über ihre erlittene Verfolgung, jedoch nicht vornehmlich im verbalen Sinne, sondern vor allem nonverbal.“

Als eine zentrale psychosoziale Spätfolge der Shoa benennt Grünberg das, was Jean Améry den „Verlust von Weltvertrauen“ nannte, ebenso wie dass der „Mit-Mensch als Gegen-Mensch“ erfahren wurde. Dies erlebe Grünberg nicht nur bei den Überlebenden, sondern auch den nachfolgenden Generationen.

Im Kontext der Hamas-Angriffe werden genau diese Erinnerungen, diese Ängste geweckt. Es „reaktualisiert das Erinnern von Überlebenden der Shoa und ihrer Nachkommen. Ich bin weit davon entfernt, die terroristischen Massaker der Hamas vom 7. Oktober mit der Shoa gleichzusetzen. Doch erlebe ich, dass sich viele bei den Bildern vom 7. Oktober und von dem, was sich danach in der Welt zutrug – die Kälte, der Mangel an Empathie und Solidarität –, an die Verbrechen der Nazis und deren Leugnung erinnert fühlen“, so Grünberg.

Normalisierung und panische Angst

Wenn dieses Erleben in einem gesellschaftlichen Kontext stattfindet, in dem Gewalttaten nach knapp über drei Wochen für die meisten Menschen fast vergessen scheinen, wenn es einfach erscheint, antisemitische Propaganda wie die der Zerstörung eines Krankenhauses in Gaza durch die israelische Armee zu glauben, Jüdinnen und Juden real bedroht werden in ihrem Umfeld, dann führe dies zu einem Gefühl, „sich nicht verlassen zu können, nicht aufgehoben, sondern bedroht zu sein“. Jüdinnen und Juden fühlten sich dann wie „Fremdkörper“ im eigenen Land. Panische Ängste können entstehen. Grünberg spricht in diesem Zusammenhang von einem „traumatischen Klima“, das er höchst bedenklich finde.

Es stellt sich die Frage, wie Jüdinnen und Juden angesichts des abscheulichen Massenmords vom 7. Oktober und der nach Gaza verschleppten Geiseln wieder Hoffnung in der Welt finden können.

Für ZWST-Direktor Schuster ist klar: „Wir müssen uns die Illusion nehmen, dass nach dem Ende dieses Krieges alles wieder so sein wird wie vorher. Die jüdische Community in Deutschland hat realisiert, welches Potenzial besteht, Antisemitismus auf die Straße zu bringen. Diese Erfahrungen und die Traumatisierung dadurch, die bleiben.“ Und Analytiker Grünberg verweist auf die Verantwortung des gesellschaftlichen Umfelds: „Hier ist vor allem die Zivilgesellschaft aufgerufen zu handeln. Warum hängen keine israelischen Flaggen an jeder zweiten Häuserwand?“

Vertrauen wiederherstellen und die Betroffenen psychisch stabilisieren – diese Bemühungen werden aus Sicht der ZWST langfristig bleiben. Ein zum Teil irreparabler Schaden, der bleibt.

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