Kämpfe in der Region Charkiw: Russland eröffnet neue Kriegsfront

Nördlich der Stadt Charkiw hat Russland eine Offensive gestartet. Noch hält die Ukraine dagegen.

Polizist an Jeep

Evakuierung aus ­Wowtschansk Foto: Vyacheslav Madiyevskyy/reuters

Die russischen Truppen haben ihren Vormarsch in die Region Charkiw im Morgengrauen des 10. Mai begonnen. Seitdem gibt es dort heftige Kämpfe. Am Samstag und Sonntag verkündete das russische Verteidigungsministerium, insgesamt neun Dörfer nördlich der Stadt Charkiw eingenommen zu haben. Von ukrainischer Seite gab es bis Redaktionsschluss keine Bestätigung.

Nachdem die russischen Soldaten am Freitagmorgen die Grenze überschritten ­hatten, starteten sie, unterstützt von Artillerie und Luftstreitkräften, eine Offensive in zwei Richtungen – eine in Richtung der Stadt ­Charkiw und die andere in Richtung des Ortes ­Wowtschansk. Sechs ukrainische Grenzdörfer wurden in Schutt und Asche gelegt. Drei bis fünf Bataillone der neu geschaffenen Militärgruppierung „Nord“ waren daran beteiligt.

Ziel der russischen Truppen ist es, die aktive Frontlinie von derzeit etwa 800 Kilometern Länge zu erweitern. Dadurch sollen die ukrainischen Streitkräfte gezwungen werden, sich noch weiter zu zerstreuen und Kräfte von der Hauptfront im Donbass abzuziehen. Die russischen Truppen wollen damit ihrem Ziel näherkommen, die Region Donezk vollständig einzunehmen.

Zudem will Russland eine sogenannte Pufferzone an der ukrainisch-russischen Grenze schaffen. Oder, wie der russische Präsident Wladimir Putin es in einer seiner Reden sagte, eine „Sanitätszone“. Die russische Führung will damit die Frontlinie von der russischen Stadt Belgorod nahe der ukrainischen Grenze sowie den umliegenden Dörfern, die immer wieder unter ukrainischen Beschuss geraten sind, verlegen. Kämpfe sollen ausschließlich auf ukrainischem Territorium ausgetragen werden. Das russische Regime will seinem Volk de­mons­trie­ren, dass es in der Lage ist, seine Siedlungen zu verteidigen.

Das ukrainische Kommando soll vorab von den russischen Plänen zum erneuten Vormarsch auf Charkiw gewusst haben. Überrascht wurde die Ukraine also nicht, verfügte allerdings nicht über eine ausreichende Konzentration von Personal, Ausrüstung und Munition, um die Angriffe zurückzuschlagen. Am zweiten Tag der Angriffsabwehr berichteten ukrainische Militärangehörige vor Ort jedoch, dass ausreichend Munition zur Verfügung stehe – unter anderem aus den neuen militärischen Hilfspaketen westlicher Partner.

In Richtung Wowtschansk stellt der russische Vorstoß noch keine ernsthafte Gefahr dar. Die russischen Streitkräfte wenden dort ihre übliche Taktik an und zerstören die Stadt durch Gleitbomben aus der Luft. Laut örtlichen Behörden wurden allein am Samstag mehr als 20 Bomben auf Wowtschansk abgeworfen, wodurch die wichtigste zivile Infrastruktur des Stadtzentrums vollständig zerstört wurde.

Auf russischen Propaganda-Militärblogs lässt sich lesen, der aktuelle Angriff sei für die russischen Truppen kein „Spaziergang“. Die russische Seite will sich auf ihre Überlegenheit in der Luft verlassen. Die topografischen Gegebenheiten sowie die bewaldeten Gebiete erschweren jedoch auch die Verteidigungsmöglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte. Die russischen Truppen dringen in kleinen Gruppen in die Wälder ein, richten Positionen ein und ziehen weiter. Sollte es den Ukrainern nicht gelingen, die neuen russischen Positionen zu zerstören, ist zu erwarten, dass die Russen sie nach und nach ausweiten und damit immer tiefer vordringen werden.

Sollte es die russische Armee schaffen, das logistisch wichtige Dorf Lyptsi einzunehmen und dort Position zu beziehen, wäre dies eine direkte Bedrohung für Charkiw. Experten gehen davon aus, dass die Menge an Munition, über die die ukrainische Armee verfügt, von entscheidender Bedeutung dafür sein wird, ob die Russen in Richtung Charkiw vorrücken können. Die geschätzt etwa 40.000 bis 50.000 an dieser Offensive beteiligten russischen Soldaten reichen vermutlich nicht aus, um die gut befestigte Millionenstadt Charkiw tatsächlich einzunehmen. Sollte es ihnen aber doch gelingen, könnten sie dieses Szenario in anderen Grenzgebieten wiederholen. Zum Beispiel in der Region Sumy, die an Charkiw angrenzt und wo die Russen bereits Truppen konzentrieren.

Trotz der Öffnung des neuen Frontabschnitts finden die Hauptkämpfe immer noch im Donbass statt, im Osten der Region Charkiw in der Nähe der Stadt Kupjansk sowie im Süden des Landes in der Region Saporischschja.

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