Kinderbücher über mutige Töchter: Die Macht der Verwandlung

Neue Kinderbücher von Eleonora Martin, Nikolaus Heidelbach, Paul Maar und Kimberly Brubaker Bradley erzählen von mutigen Töchtern.

Ein Junge sitzt auf einem Schrank und wedelt mit einer kleinen Hasenpfote - Seeelefanten schauen ihm entgesitert zu

Mit der Zauber­hasenpfote verwandelt Harry seine Familie in See­elefanten. Faszinierende Bildfindungen bei Nikolaus Heidelbach Illustration: Abb: Beltz & Gelberg

In der Dunkelheit verborgene Fantasiewesen zu erkennen – diese Fähigkeit ist meist Kindern vorbehalten. Sie entdecken die unheimlichen, nächtlichen Gestalten noch mühelos im blumigen Stoff der Vorhänge oder hinter aufgetürmten Kleiderhaufen. Das interessante Phänomen inspirierte die Illustratorin Eleonora Marton zu „Hausmonster“.

In diesem Bilderbuch präsentiert sich Lola vor dem freundlich wirkenden Haus, in dem sie mit ihrer Katze und den Eltern lebt. Doch wird es dort Nacht, warnt uns das Mädchen, erscheinen in den Zimmern der schreckliche Kratzo, Glubsch, Bogus und die anderen Monster.

Ganz in Schwarz und Dunkelblau gehalten, erzählen die flächig gestalteten Nacht-Seiten von den finsteren Mitbewohnern und zeigen deren dunkle Umrisse. Aber schon auf der nächsten Doppelseite scheint am Morgen wieder hell die Sonne durchs Fenster.

Monster vertreiben

Wischmopp und Bügelbrett stehen unbeteiligt in der Ecke. Am Kleiderständer hängt ein unverdächtiger roter Regenmantel mit langem Schal. Aus diesem Wechselspiel zwischen Nacht und Tag entsteht beim Umblättern eine unterhaltsame Dramaturgie, die zum genauen Hinschauen einlädt und die Macht hat, Monster zu vertreiben.

Ein Meister der fragilen Balance zwischen Humor und Schrecken ist der Kölner Kinderbuchautor und -illustrator Nikolaus Heidelbach. Die Kinder, Protagonisten seiner fast hyperrealistisch gezeichneten Geschichten, sind nicht niedlich und sie haben keine Angst. Auch in Heidelbachs jüngstem Bilderbuch „Eine Hasenpfote für Harry“ greift der kahlköpfige Junge unerschrocken zu, als ihm ein pelziges Amulett auf dem Schulweg angeboten wird.

Der Typ (er sieht aus wie der Teufel) überlässt ihm die Hasenpfote und damit auch Zauberkräfte – für einen Tag und ohne Gegenleistung. Zu Hause muss Harry den Eltern und der kleinen Schwester natürlich berichten, was ihm Erstaunliches passiert ist.

Mit dieser Rahmenhandlung schafft Heidelbach eine hervorragende Ausgangssituation für faszinierende Bildfindungen. Bevor Harry seiner Familie von den Zauberabenteuern zu erzählen beginnt, verwandelt er die drei noch schnell in riesige Seeelefanten. Aber was war an diesem Tag alles geschehen?

Als Zauberer unterwegs

Unterwegs begegnete Harry zuerst Anton aus seiner Klasse. Mit der Hasenpfote in der linken Faust nur kurz an einen Elefanten gedacht, verwandelte sich der Mitschüler augenblicklich in sein Lieblingstier. Bei der Begegnung mit einer Bettlerin regnete es Mäuse statt Geld. Den drängelnden Lastenrad-Vater verzauberte Harry kurzerhand in einen Laubfrosch mit seinen vier Kindern. Ähnlich erging es auch dem ungeduldigen Jogger. Der wurde in Gestalt eines Tausendfüßlers erst mal ausgebremst.

Dank der sonderbaren Hasenpfote kann Harry an diesem Tag seine Umgebung nach Lust und Laune verändern. Das scheint ihm ein diebisches Vergnügen zu bereiten, auch wenn nicht immer alles nach Plan verläuft. Gelungen kombiniert Nikolaus Heidelbach seine detailreichen, ausdrucksstarken Bilder sprachlich durch Harrys lebhafte Schilderungen der Ereignisse.

Doch ähnlich Goethes „Zauberlehrling“ ist auch der Junge den magischen Kräften bald nicht mehr gewachsen. Erschöpft gesteht er den Eltern: „Ich wollte nur noch nach Hause und bin gerast wie der Teufel.“ Glücklicherweise kommt ihm seine mutige Schwester zu Hilfe. Im richtigen Moment bewahrt sie einen kühlen Kopf.

„Es war einmal eine Zauberin, die hieß Frau Schmitt.“ Damit beginnt der berühmte Kinderbuchautor Paul Maar sein modernes Märchen „Die Tochter der Zauberin“. Diese jüngste Erzählung handelt von der 11-jährigen Fizzi und ihrer übermächtigen, bösen Mutter. Mit viel Sympathie für seine schüchterne Protagonistin verbindet der Sams-Erfinder fantastische und reale Welten auf eine ihm eigene humorvolle Art. Enkel Hannes Maar hat die Geschichte des 86-Jährigen stimmig wie aus einem Guss illustriert. Mit den zahlreichen Abbildungen eignet sich der schmale Band auch für etwas ungeübte Leser:innen.

Fizzi heißt eigentlich Malefizia. Trotzdem bemüht sie sich sehr, ein hilfsbereiter und guter Mensch zu sein. Ihre Mutter, eine der bekanntesten Zauberinnen des Landes, verursacht viel lieber Erdbeben, Unwetter oder lange Schlangen an Supermarktkassen. Entsprechend unzufrieden ist Frau Schmitt mit ihrer braven Tochter und ebenso mit dem angepassten Ehemann.

Finstere Trolle, Sägenager und Zauberschildkröten

Kurzerhand verzaubert sie Herrn Schmitt in einen Lederkoffer. Im Streit danach verbannt sie Fizzi und ihren Vater in die Zwischenwelt. „Dort unten“ im Reich der sprechenden Füchse, finsteren Trolle, Sägenager und Zauberschildkröten entdeckt das zurückhaltende Mädchen, den singenden Vater-Koffer im Gepäck, ihre ganz neuen, mächtigen Fähigkeiten.

Während 1939 die ersten Luftangriffe der Wehrmacht Großbritannien bedrohen, wendet sich ausgerechnet durch den Krieg in „Gras unter meinen Füßen“ das Schicksal für die zehnjährige Ada. In dieser Ausnahmesituation wächst sie trotz Handicap über sich hinaus.

Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse erzählt der berührende Jugendroman von Kimberly Brubaker Bradley von Misshandlung und Befreiung aus der besonderen Per­spek­tive des Mädchens. Überzeugend verbindet die US-amerikanische Autorin das herausfordernde Sujet mit einer Handlung, die individuelle Erfahrung und kollektives Erleben behutsam zusammenführt.

Flucht vor „Hitlers Bomben“

Eleonora Martin: „Hausmonster“. Aus dem Englischen von Benjamin Duttmann-Bieber. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2024, 32 Seiten, 16 Euro. Ab 4 Jahre

Nikolaus Heidelbach: „Eine Hasenpfote für Harry“. Beltz & Gelberg, Weinheim 2024, 32 Seiten, 16 Euro. Ab 5 Jahre

Paul Maar: „Die Tochter der Zauberin“. Mit Illustrationen von Hannes Maar. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2024, 96 Seiten, 15 Euro. Ab 8 Jahre

Kimberly Brubaker Bradley: „Gras unter meinen Füßen. Das Jahr, als ich leben lernte“. Aus dem Englischen von Beate Schäfer. dtv Reihe Hanser, München 2024, 336 Seiten, 16 Euro. Ab 12 Jahre

Ada lebt mit ihrer gewalttätigen Mutter und dem kleinen Bruder Jamie über einem Pub in der Nähe der Londoner Docks. Das Kind ist mit einem Klumpfuß zur Welt gekommen, der nie behandelt wurde. Die ärmliche Wohnung, in der sie sich nur kriechend fortbewegt, darf Ada nicht verlassen. Doch als sie hört, dass Londoner Kinder mit Zügen aufs Land evakuiert werden sollen, ergreift Ada die einmalige Chance, um mit dem Bruder „Hitlers Bomben“ und ihrem Gefängnis zu entkommen. Unter extremen Schmerzen gelingt ihr die Flucht.

Großbritannien befindet sich im Krieg mit Nazideutschland und fordert die Bevölkerung zur allgemeinen Mobilmachung auf. Auch die Evakuierung der Londoner Kinder wird von den Frauen eines Freiwilligenkomitees im Dorf organisiert. Völlig verdreckt und ausgehungert landen die Geschwister schließlich bei der alleinstehenden Miss Smith, die sie erst widerwillig in ihrem Haus auf dem Land aufnimmt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hört Ada die Vögel singen und spürt unter ihrem „schlimmen“ Fuß das taufrische Gras. Mühsam erobert sie sich eine Welt, von der sie ausgeschlossen wurde. Vorsichtig lernt sie sich selbst und anderen Menschen zu vertrauen.

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