Kino-Film „La chimera“ über Grabräuber: Die Gegenkultur der Armen

Alice Rohrwachers Spielfilm „La chimera“ handelt von einem Grabräuber. Er erzählt nebenbei von der Neuen Linken und dem Feminismus in Italien.

Eine Gruppe gutgelaunter Menschen mit Bechern in der Hand. Einige der Männer sind geschminkt

Grabräuber mit Stil und Freude am Leben in „La chimera“ beim jährlichen Umzug im italienischen Dorf Foto: Piffl

Toskana, Anfang der 1980er Jahre. Kurz nach Neujahr sitzt Arthur in einem Leinenanzug, der bessere Tage gesehen hat und eine Wäsche vertragen könnte, nach einer Gefängnisstrafe im Zug zurück nach Riparbella, einem Dorf in der Maremma. Am Bahnhof wartet Pirro, einer von Arthurs Freund_innen, mit dem Auto. Doch Arthur zögert einzusteigen.

Schließlich steigt er doch ein und Pirro fährt ihn geradewegs zu dem Rest des Kreises von Freund_innen, die vor einer Bar sitzen. Die Gruppe lebt davon, etruskische Gräber in der Gegend zu plündern und die Fundstücke in der nächsten Stadt an einen ominösen Mittelsmann namens Spartaco zu verkaufen. Doch Arthur sucht in erster Linie nach Erinnerung an seine verstorbene Liebe Beniamina. „La chimera“, der neue Film der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher, verbindet eine Hommage an Indiana Jones mit einer so komplexen wie unterhaltsamen Reflexion über das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart.

Arthur (Josh O’Connor) vermeidet zunächst den Kontakt zu seinen Freunden. Stattdessen sucht er die Nähe von Beniaminas Mutter Flora (Isabella Rossellini). Die lebt in einem verfallenden, ehemals wohlhabenden Haus. Von Zeit zu Zeit fällt die Schar ihrer verbliebenen Töchter ein, tratscht und erteilt der Mutter Ratschläge. Die übrige Zeit lebt nur Italia (Carol Duarte) mit ihr, die Gesangsunterricht bei Flora nimmt und dafür bei Flora als Dienstmädchen arbeitet. Die Vertrautheit zwischen Arthur und der Mutter seiner toten Geliebten scheint auf das Verhältnis von Arthur und Italia abzufärben und die beiden wortkargen Figuren fühlen sich zueinander hingezogen.

Doch Arthur ist für seine Freund_innen unersetzlich. Er ist derjenige, der die Gräber mit einer Wünschelrute lokalisiert. Direkt über ihnen verfällt er in eine Art Trance. Die Gruppe lebt in einer Art Hippie-Kommune in einem Haus am Rande des Dorfes zusammen. Doch die Gruppe ist durchaus Teil der Dorfgemeinschaft. Zu Epifania nehmen die Grabräuber_innen als Hexen verkleidet an einem Umzug durchs Dorf teil, hinter ihnen geht eine Blaskapelle aus Carabinieri, Dorfpolizist_innen und Dorfbewohner_innen.

Medium zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Über weite Strecken wirkt es, als müsse sich Arthur letztlich zwischen diesen beiden Welten entscheiden: zwischen dem Leben als Tombarolo, als Grabräuber, und dem Leben mit Italia und ihren beiden Kindern, die sie vor Flora versteckt. Der Umgang unter den Tombaroli ist wenig herzlich, bleibt letztlich bestimmt von der Suche nach den Gräbern und dem Verkauf der Fundstücke.

Als Italia später in einem verlassenen Bahnhof eine Frauenkommune gründet, wechselt Fabiana, eine der wenigen Frauen unter den Grabräubern, die Seiten. Doch Arthur ist die Chimäre des Titels, ein Mischwesen, rastlos suchend. Er ist Medium zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen verschiedenen Welten. Das markiert sein Anzug, der aus einer anderen Zeit zu stammen scheint, ebenso wie sein Wohnort. Arthur lebt in einer improvisierten Hütte, die sich von außen an die Stadtmauer schmiegt, weder innerhalb noch außerhalb der Mauer.

„La chimera“ ist Alice Rohrwachers vierter Spielfilm. Wie die Vorgänger feierte auch ihr neuer Film auf dem Filmfestival in Cannes Premiere. Spätestens seit dem Vorgängerfilm „Lazzaro felice“ („Glücklich wie Lazzaro“) zählt Rohrwacher zu den bekanntesten Regisseurinnen der Wiederbelebung des italienischen Autor_innenkinos. Zwischen den Spielfilmen hat Rohrwacher bislang eine Handvoll Kurzfilme realisiert und zu drei kollaborativen Dokumentarfilmen beigetragen.

Rohrwachers Filme sind vom Debüt „Corpo celeste“ (2011) bis zu ihrem aktuellen Film durch eine Vorliebe für bestimmte Figuren und Motive verbunden. Sie kreisen um spirituelle, magische Erlebnisse, die oft mit den ländlichen Handlungsorten verbunden sind. Sie hat eine Vorliebe für Hauptfiguren, die wie Arthur in ihrem Umfeld als Fremdkörper erscheinen und gleichzeitig das Umfeld klarer erzählbar und sichtbar werden lassen.

Auch „La chimera“ entrollt keine lineare Handlung, sondern zeigt auf verschlungenen erzählerischen Pfaden ein Lebensumfeld. In der Besetzung gibt es klar erkennbare Vorlieben Rohrwachers. Sie hat eine Vorliebe für markante Physiognomien, allen voran große Nasen wie die von Arthurs Mitschatzräuber Pirro. All das fügt sich wie in den Vorgängerfilmen zu einem unverkennbaren Stil.

Die Gesellschaften der Armen

Vor allem die drei Filme jener Trilogie, die nun mit „La chimera“ abgeschlossen ist, die mit „Le meraviglie“ („Land der Wunder“) und „Glücklich wie Lazzaro“ begann, lassen in ihrer Evokation einer Gegenkultur unter einer Landbevölkerung, die unter oft ärmlichen Verhältnissen lebt, an den Begriff des „Cour des miracles“ (Hof der Wunder) denken. Der Begriff entstand ursprünglich als Bezeichnung der Pariser Slums, die im 17. Jahrhundert entstanden. In den Phantasmen, die den Begriff umgeben, die in den Gesellschaften der Armen eine ständige Herausforderung der Gesellschaftsordnung sahen, lassen sich Parallelen zu Rohrwachers Filmen entdecken.

So kreisen auch ihre früheren Filme schon um Fragen kollektiven Lebens wie in der heruntergekommenen Gemeinde in „Corpo celeste“, den Bienenzüchter_innen in „Land der Wunder“ und den Slums in „Glücklich wie Lazzaro“. Auch in „La chimera“ ist diese Faszination für Lebensentwürfe sowohl bei den Grabräuber_innen als auch in Italias Frauenkommune unübersehbar.

Bevor Alice Rohrwacher als Filmemacherin Erfolge feierte, studierte sie an der Turiner Schule für kreatives ­Schreiben Scuola Holden. Eine Prägung, die sich in ihren Filmen bis heute zeigt: Trotz der Kraft der Bilder dominiert in Rohrwachers Filmen die Erzählung. In ihren Filmen findet sich kaum eine Sequenz, in der die Bilder nicht im Dienst der Erzählung stehen.

Der Hexenenthusiasmus der Neuen Linken

Trotz dieser Konstanten gibt es auch deutliche Entwicklungen in ihren Filmen. So ist „La chimera“ eine wesentlich internationalere Produktion als es die beiden Vorgängerfilme der Trilogie sind. Ähnlich wie Rohrwachers Regiekollege Pietro Marcello, dessen neuester Film „Die Purpursegel“ mit italienischer Beteiligung in Frankreich entstand, weitet sich das Kino Alice Rohrwachers als Lohn für bisherige Erfolge in ihrem aktuellen Film zu einem europäischen Arthousekino.

Doch trotz dieser Europäisierung quillt „La chimera“ über vor teils sehr lokalen kulturellen Referenzen: der Umzug zu Epifania zu Beginn des Films, an dem die Grabräuber teilnehmen, verweist sowohl auf den Mythos der Hexe Befana als auch auf den Hexenenthusiasmus der italienischen Neuen Linken und des Feminismus.

„La chimera“. Regie: Alice Rohrwacher. Mit Josh O’Connor, Carol Duarte u. a. Italien/Frankreich/Schweiz 2023, 130 Min.

An zwei Stellen lässt Rohrwacher einen Sänger Balladen über das Leben von Arthur und den Grabräubern singen. In der Musik dieser Szenen wird das Wiedererwachen musik­ethnografischer Neugier aufgegriffen, mit der die italienische Linke ab den 1970er Jahren vergessene musikalische Traditionen aufspürte. Und auch das Grundthema der Wiederentdeckung der etruskischen Welt verweist präzise auf einen konkreten Trend der 1970er und 1980er Jahre.

Alice Rohrwachers „La chimera“ ist der Glücksfall eines gänzlich gegenwärtigen Blicks auf die Vergangenheit, eines europäischen Arthousefilms mit lokalem Bewusstsein, eines Gegenentwurfs der Lebensweisen, der um seine Individualität weiß. „La chimera“ ist eine Empfehlung.

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