Kurdische Musikerin aus Berlin: Garten der unterdrückten Völker

Cemile Dinçer will verhindern, dass kurdische Volkslieder in Vergessenheit geraten. Ihre neuen Interpretationen veröffentlicht sie auf Youtube.

Cemile Dinçer spielt ein traditionelles Saiteninstrument

Die kurdische Musikerin Cemile Dinçer Foto: Paul Köhler

Im Lied fällt Schnee. Der Schnee fällt sanft, aber unaufhaltsam. Warum hört der Schnee nicht auf zu fallen in diesem Dorf? Der Schnee fällt dort und auf die umliegenden Berge. Er begräbt alles, er lässt keine Hoffnung zu, alle bleiben unter ihm.

Mit dem kurdischen Stück „Berfek Barî“, auf Deutsch „Es schneite“, begann Cemile Dinçer ihr Benefizkonzert im März für die Betroffenen des Erdbebens in Syrien, der Türkei und Kurdistan einen Monat zuvor. „Das Leid hat nicht aufgehört in der Region. Umso mehr ist es wichtig, dass wir jetzt zusammenkommen und Solidarität zeigen“, sagt sie und das nächste Stück wird mit einem langanhaltenden Applaus eingeleitet. Tayfun Guttstadt, Can Tüfekcioglu und Ahmedo spielen auf einem Tembûr, einem Bendir und einer Gitarre, Cemile Dinçer singt in einem schwarz-weißen Kleid armenische und kurdische Lieder.

Während sie singt, bewegen sich im Publikum leise die Lippen von Frauen, manche mit dicken schwarzen, leicht kupferfarbenen Haaren. Daneben sitzen alte Herren, die rhythmisch zu den Liedern stapfen. Gesungen wird von Liebe, Widerstand und Schmerz, von der Trennung zur Heimat, der Hoffnungslosigkeit und dem Leben. Die meisten hier sind selbst Teil der kurdischen Diaspora in Berlin, kennen diese Lieder in verschiedenen Interpretationen von kurdischen Berühmtheiten wie Ciwan Haco, Sivan Perwer und dem Dichter Cegerxwîn.

„Alle Künstler, die im Namen dieser Kultur etwas machen, sind sehr viel wert“, erzählt die Musikerin ein paar Monate später bei einem Treffen in einem Jugendstilcafé in Berlin-Steglitz. „Dabei überlegt man sich immer, was kann ich noch mehr tun?“ Cemile Dinçer ist in Frankfurt geboren und fühlt sich dort, aber auch zum Dorf ihrer kurdischen Mutter und dem ihres tscherkessischen Vaters in der Türkei zugehörig. Die Eltern haben sich in Deutschland kennengelernt.

Garten der unterdrückten Völker

Eine Cousine von ihr bezeichnete Dinçer als einen Garten der unterdrückten Völker, das fand sie sehr treffend. “Seit Jahrhunderten erlebt die kurdische Bevölkerung eine Tragödie nach der anderen“, antwortet Cemile Dinçer zur Frage nach der Lage der Kurden. „Es ist immer wieder schmerzhaft, aber es ist auch motivierend und bereichernd zu sehen, wie widerstandsfähig das Volk ist.“ Sie ist 29 Jahre alt. Generell fühle sie sich nicht machtlos. „Es passieren nur Ereignisse, wo man mehr aktiv helfen möchte.“

Als sie klein war, kamen ihr Vater und ihr Onkel oft zum Musizieren zusammen. Beide spielen Bağlama, sie lernte früh das Instrument und sang die kurdischen Lieder mit. Kurmanji, den kurdischen Akzent, den ihre Mutter spricht, kann sie nicht fließend. Am meisten lernt sie die Sprache durch die Lieder, die sie einstudiert.

Die Inhalte der Lieder wurden nicht altmodisch. Cemile Dinçer versucht ihren Beitrag zu leisten, dass die Musik nicht in Vergessenheit gerät. Sie veröffentlicht eigene Interpretationen kurdischer Volkslieder auf Youtube. Ihre Auslegungen leben von traditionellen Instrumenten, klassischem Klavier, Jazz und poppigen Elementen zugleich. Dabei spaziert sie im Video mal in gemusterten traditionellen Klamotten, dann wieder mit einem einfachen weißen Pullover oder einem beigen Mantel durch Berlin. Vorbei am Kottbusser Tor, an Parks und Cafés, bis zum Regierungsviertel und dem Brandenburger Tor.

Dinçer erreichte eine junge kurdische Community

Ihre Videos werden mehrere hunderttausend Male angeklickt, unter den Videos wird meist sehr positiv auf Kurdisch kommentiert, umso mehr nachdem ein Online-Kurdischsprachkurs auf Instagram seine Fol­lo­wer:­in­nen auf ihre Videos aufmerksam gemacht hat. Auf Tiktok erreicht sie vor allem die junge kurdische Community in Deutschland, die sie in den Kommentaren komplett abfeiern.

Eigentlich hat Cemile Dinçer in Gießen Geschichts- und Kulturwissenschaften studiert. Ihr Schwerpunkt im Studium war Antisemitismus, jüdische Geschichte und nicht-muslimische Minderheiten im Osmanischen Reich. Sie machte Praktika in einer Menschenrechtsorganisation in der Türkei, war in der pro-kurdischen Freiheitsbewegung aktiv, hat soziale Veranstaltungen organisiert und an Demonstrationen teilgenommen. Bis sie merkte, dass sie damit unglücklich wird. „Ich habe mir damals vorgestellt, Politikerin zu werden. Doch ich malte mir aus, wie ich im Parlament oder auf einer Kundgebung stehen würde, eine Rede halte und dann Geschrei käme. Davon wäre ich überfordert, ich glaube, ich würde sogar weinen.“

Im Laufe ihres Geschichtsstudiums entschied sie sich, Lehrerin zu werden und ihrer Leidenschaft für Musik mehr Beachtung zu schenken. Durch Zufall fand sie heraus, dass an der Universität der Künste in Berlin Bağlama unterrichtet wird. Nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung zog sie vor zwei Jahren her. Nun studiert sie Musik auf Lehramt, mit dem Schwerpunkt Bağlama und dem Nebenfach klassisches, schulpraktisches Klavier und Gesang.

Sie singt in Kursen auf Englisch, aber auch auf Kurdisch und Armenisch in unterschiedlichen Ensembles mit Kommiliton:innen. Viele sind immer wieder begeistert, wenn sie traditionelle Stücke einbringt, weil „die kurdische Musik einen ganz anderen Takt hat“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.