Drei junge Erwachsene sitzen lachend auf einem Dach

Freund-schaften sind Wahlverwandtschaften Foto: Philipp Reiss/plainpicture

Lebensmodell Verantwortungsgemeinschaft:Drei Singles sind eine Familie

Die Ampelkoalition will das Familienrecht reformieren. Das ist eine gute Nachricht für Alleinstehende, denn sie brauchen dringend mehr Rechte und Anerkennung.

Ein Artikel von

20.8.2023, 09:09  Uhr

Zwischenmenschlichkeit in Deutschland, Beispiel eins: Vier Menschen von Mitte 30, drei Frauen und ein Mann, die eine frisch getrennt, der andere früh verwitwet, zwei Langzeitsingles, pachten gemeinsam einen Garten. Warum? Weil sie sich das jeweils allein nicht leisten könnten, weder die Kosten noch den Arbeitsaufwand. Sie sind seit dem Studium befreundet, pflegen die Beete abwechselnd oder gemeinsam und laden Bekannte zu Gartenpartys ein, so ist immer etwas los auf der Parzelle, es „vereinsamt“ garantiert kei­ne:r der vier.

Alltagsbeispiel zwei: Zwei Freundinnen, die eine alleinerziehend mit kleiner Tochter, die andere Langzeitsingle ohne Kind, ziehen zusammen in eine Wohnung. Ist die eine beruflich unterwegs oder übernachtet bei einem „Flirt“, kümmert sich die andere um das Mädchen, gekocht wird fast immer gemeinsam. Das macht Spaß und spart – wie bei der geteilten Miete – viel Geld.

Gegenwartsschnipsel Nummer drei: Drei Kleinstädter von Ende 50, zwei Männer, eine Frau, alle aus unterschiedlichen Gründen allein lebend, wollen etwas gegen die Verödung der Fußgängerzone tun. Sie kümmern sich um die Zwischennutzung eines leerstehenden Geschäfts, stellen dort Kulturveranstaltungen auf die Beine, richten einen Fahrdienst ein, damit auch Se­nio­r:in­nen aus umliegenden Altenheimen teilnehmen können.

So oder so ähnlich sieht die bundesdeutsche Realität heute vielerorts aus – gar nicht mal so übel, auch wenn Kul­tur­pes­si­mis­t:in­nen gern vor der „Zersplitterung der Familien“ und einer „Einsamkeitsepidemie“ warnen. Oft weit unter dem Radar der staatlichen Statistiken organisieren Menschen ihr Zusammenleben, passen aufeinander auf, greifen einander unter die Arme. Und das, ohne verheiratet, verschwistert oder verliebt zu sein. Stattdessen finden sie sich zu Wahlverwandtschaften zusammen. Zu Cliquen, Zirkeln, Nachbarschaftsgruppen, auf die sie sich verlassen können, auch wenn es mal hart kommt.

Eine kleine gesellschaftspolitische Revolution

Für genau „solche Leute“ soll der Alltag künftig ein wenig leichter werden. So sieht es ein Gesetz vor, dessen erste Umrisse FDP-Justizminister Marco Buschmann demnächst auf den Kabinettstisch der Ampel legen will. Die Liberalen machen sich für sogenannte Verantwortungsgemeinschaften stark. In ihrem ersten Eckpunkteentwurf aus dem Jahr 2020 heißt es dazu: „Möglichst unbürokratisch“ sollen sich „mindestens zwei oder mehrere volljährige Personen“, die nicht miteinander verheiratet oder verpartnert sind, zusammentun können – und dabei wenigstens ein paar Rechte genießen, die ihnen bisher verwehrt sind. Die Stärkung „selbstbestimmter Lebensentwürfe“ sei das Ziel, heißt es von der FDP, und nicht nur die Soziologin Andrea Newerla lobt den Vorstoß als „sehr spannenden Vorschlag, weil es solch ein Modell in dieser sehr freien Form, ohne Fokus auf Zweisamkeit, noch nirgendwo anders gibt.“

In der Tat wäre die „Verantwortungsgemeinschaft“ eine kleine gesellschaftspolitische Revolution. Denn damit stünde nach den Alleinerziehenden und den Homosexuellen erstmals die größte – und am stärksten wachsende – Minderheit im Mittelpunkt einer familienpolitischen Maßnahme: die Alleinstehenden, die von den Medien und im Alltag oft kokett „Singles“ genannt werden.

Es geht etwa um Krankheitsfälle. Angenommen Single A liegt auf der Intensivstation: Single B, eng mit A befreundet, würde die gleichen Auskunfts- und Vertretungsrechte erhalten, die ein Ehepartner hätte. Oder im Prozessfall: Stünde A vor Gericht, genösse B das Zeugnisverweigerungsrecht.

Drei Frauen mit Sonnenhüten sitzen an einem Strand

Die Zukunft ist voller frei „gewählter Vertrauenspartnerschaften“ Foto: Rolf Bruderer/Deepol/plainpicture

Auffällig an den bislang noch vagen Plänen ist, dass es nicht um das Ausgeben von Steuergeldern geht, sondern ums Gegenteil: um Sparpotenziale: „Wenn Menschen […] sich im Falle von Krankheit pflegen oder finanziell füreinander einstehen, sollte der Staat diese selbstbestimmten Lebensentwürfe fördern, nicht verhindern, […] das entlastet auch den Staat, insbesondere bei den sozialen Sicherungssystemen.“

Einkaufen für die verwitwete Nachbarin, das Kind des Kumpels beaufsichtigen – das ist angewandte Solidarität. Alleinstehende sind darin Profis

Einkaufen für die verwitwete Nachbarin, Suppe kochen für die depressive Freundin, das Kind des alleinerziehenden Kumpels beaufsichtigen, dem abgebrannten Single-Kollegen die Wohnzimmercouch anbieten: Das ist angewandte Solidarität, und Alleinstehende sind darin Profis, sind gewöhnt, sich gegenseitig zu helfen – weil sie bislang von öffentlicher Seite kaum Unterstützung erfahren. Vieles haben Hetero-Singles dabei von queeren Menschen gelernt, die ebenfalls Outsider der Mehrheitsgesellschaft sind, dabei aber weitaus mehr Stigmatisierung erfahren: „Für uns, deren Leben von der Norm abweicht, ist Solidarität eine Notwendigkeit, keine Option“, sagt etwa die deutsch-französische trans Künstlerin Astrée Duval.

Gut 18 Millionen Deutsche schlagen sich ohne feste Partnerschaft durchs Leben, grob gerechnet je­de:r vierte Erwachsene. Das Statistische Bundesamt spricht von „Alleinstehenden“, wenn es um Personen geht, „die ohne Ehe- oder Lebenspartner/-in und ohne ledige Kinder“ leben, gleich ob ledig, geschieden, verwitwet oder noch verheiratet, aber getrennt lebend. Alleinerziehende mögen sich als „Singles“ fühlen, sind in den Staatstatistiken aber als „Lebensgemeinschaften mit Kindern“ geführt.

Fakt ist: Die Zahl der Einpersonenhaushalte hat sich seit 1991 fast verdoppelt, nicht nur in Großstädten, sondern, in etwas flacherer Kurve, auch auf dem Land. 42 Prozent aller Privathaushalte bestehen aus nur einem Menschen, und nach Einschätzung des Bundesinstituts für Raumforschung wird dieser Anteil noch steigen. Wackelige Erwerbsbiografien, der kapitalistische Befehl, sich „flexibel“ zu halten, sind der Familiengründung nicht gerade zuträglich. Hinzu kommt, dass mehr und mehr Menschen das Modell der romantischen Paarbeziehung, „die bürgerliche Ehe“, grundsätzlich anzweifeln. Jede zweite bis dritte Ehe geht bekanntlich in die Brüche, im Schnitt dauert es bis zur Scheidung 15 Jahre.

Manche So­lis­t:in­nen haben sich ihre Einzelexistenz so ausgesucht, andere leben unfreiwillig allein. Nicht für alle ist das Solo-Dasein eine „Lifestyle-Entscheidung“, wie reaktionäre Kräfte es gern behaupten. Laut Statistischem Bundesamt setzen sich die 18 Millionen Alleinstehenden zu fast gleichen Teilen aus Menschen mit Hauptschulabschluss (29 Prozent), Mittlerer Reife (28 Prozent) und Abitur (35 Prozent) zusammen. 2021 lag das Nettoäquivalenzeinkommen für gut zwei Drittel von ihnen bei unter 2.100 Euro im Monat. Ein Viertel ist von Armut bedroht, ergab 2016 eine kleine Anfrage der Linkspartei an die Merkel-Regierung.

Alleine wohnen ist teuer

Alleinstehende zahlen meistens drauf: Alleine wohnen ist teuer; auf Reisen zahlen Singles Einzelzimmerzuschläge, im Supermarkt Aufpreise für kleine Verpackungen und bei den Pflegebeiträgen happige Zuschläge. Mit ihren Steuern finanzieren sie die Kitaplätze und Elternzeiten der anderen mit – obwohl all die Familienvergünstigungen keineswegs zu mehr Nachwuchs führen, die Geburtenrate sinkt.

Kaum öffentliche Anerkennung gibt es bisher für den sozialen „Mehrwert“, den Alleinstehende in die Gesellschaft einbringen. Schon die einstige CDU-Familienministerin Ursula Lehr stellte fest, dass Menschen, die „sehr fami­lien­zentriert“ sind, ein „geringeres Interesse für Angelegenheiten, die einen als ‚Bürger‘ interessieren“, zeigten. Heute macht der Chicagoer Soziologe Eric Klinenberg darauf aufmerksam, wie stark die Gesellschaft von Singles profitiere, denn diese verhielten sich, allen Vorurteilen zum Trotz, weniger „selbstsüchtig“ – nicht nur, indem sie tendenziell mehr Ehrenämter übernähmen, sondern auch, indem sie „das öffentliche Leben [lebendig halten], weil sie häufiger Zeit mit Freunden und Nachbarn verbringen als diejenigen, die mit anderen zusammenleben“.

In den 1990er Jahren sagte das damalige Traumpaar der Soziologie, Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck, eine Zukunft voller frei „gewählter Vertrauenspartnerschaften“ voraus. Sie gingen davon aus, dass unverpartnerte Menschen im 21. Jahrhundert „neue, exemplarische, lebbare Lebensstile von stilbildender Vorbildlichkeit“ entwickeln würden. Exakt dies ist eingetreten im englischsprachigen Raum, wo statt von „relationships“ heute viel mehr von „kinships“ oder „emotionships“ die Rede ist.

Nicht nur die Jungen experimentieren längst mit Alternativen der Zwischenmenschlichkeit. „Es geht auch um unsere Zukunft als alternde Gesellschaft. Wir haben jetzt schon enorme Versorgungsprobleme, die ein romantischer Liebesdienst nicht lösen kann“, sagte die Soziologin Andrea Newerla kürzlich der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Das Horrorbild der einsamen, in Heime abgeschobenen Alten: Es entstand vor Jahrzehnten, während die Mehrheitsgesellschaft weiterhin ihre ordentlichen Kernfamilien gründete. Wo sind sie denn am Lebensende alle, die Verwandten, die Kinder, die Enkel? Eine Studie der Uni Bamberg mit dem Titel „Älterwerden als Single“ zeigt: Wer zeitlebens nichtfamiliären „sozialen Kontakten einen zentralen Stellenwert“ beigemessen hat, ist aufs hohe Alter meist besser vorbereitet – und mitunter glücklicher.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der US-Soziologe William Ogburn prägte einst den Begriff der „kulturellen Phasenverschiebung“: Die Menschen sind wandelbar, sie erproben fortwährend neue Lebensformen – doch die Kultur, die Politik, der allgemeine Sprachgebrauch, sie hängen lange an alten Worten und gescheiterten Idealen. Das erste FDP-Papier zur Verantwortungsgemeinschaft hält am „besonderen Schutz der Ehe im Grundgesetz“ fest. Von der Abschaffung des Ehegattensplittings ist keine Rede. Und auch sonst fällt einer Alleinstehenden manches ein, was darin fehlt.

Zum Beispiel eine Änderung im III. Sozialgesetzbuch, in dem es um Arbeitslosigkeit geht: Laut Paragraf 140 kann eine Person zum Umzug „außerhalb des zumutbaren Pendelbereichs“ aufgefordert werden, um eine Beschäftigung aufzunehmen – es sei denn, sie kann „familiäre Bindungen“ am bisherigen Wohnort aufweisen. Das bedeutet aber: Singles, die arbeitslos werden, laufen Gefahr, ihre sozialen und emotionalen Sicherheitsnetze aufgeben zu müssen.

Wie weit die Liberalen mit ihren Plänen letztlich kommen, wird sich noch zeigen. Aber allein die Tatsache, dass dieses unübersichtliche Deutschland, nun endlich die Lebensrealität der Alleinstehenden wahrnimmt und darüber spricht, ist schon ein Fortschritt. So hat es einst schon einmal angefangen, Jahre bevor sich das Land an das Wort „Patchworkfamilie“ gewöhnte und die „Ehe für alle“ kam.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.