Lesen in Kreuzberg: Besuch im alten Westberlin

Die lange Buchnacht in der Kreuzberger Oranienstraße hat auch im 14. Jahr ihres Bestehens nichts an Charme verloren. Am Samstag tummelten sich über 15.000 Besucher bei über 100 Lesungen gepaart mit Fußballlärm - und lauschten meist überaus gebannt.

Bücher (Symbolbild). Bild: DPA

Es ist ein überaus hübscher Zufall: Pünktlich zu Beginn der ersten abendlichen Lesung im Rahmen der 14. Langen Buchnacht in der Oranienstraße gibt es Feuerwerk und Autokorsos zur Feier des Istanbuler Fußballklubs Galatasaray, der gerade türkischer Meister geworden ist. Vier Minuten später fällt das erste Tor von Dortmund gegen Bayern im Pokalfinale. Wieder großes Gehupe und Geschrei.

In der Kneipe „Zum Elefanten“ drängen sich so viele Zuhörer, dass die Türen nicht mehr zu gehen. Autor Johannes Groschupf hat es schwer, gegen den freudigen Lärm draußen anzulesen. Er nimmt‘s mit Humor – als passende Orchestrierung dessen, was er gerade liest. Denn immer, wenn es draußen am Lautesten wird, da geht es auch in den Passagen, die er aus seinem Roman „Hinterhofhelden“ vorträgt, hoch her. Hans Odefey, der Held aus der norddeutschen Provinz, geht Anfang der Achtziger zum Studieren nach Berlin. Just in dem Moment, als er – im Buch – eine Neuköllner Einzimmerwohnung mit Außenklo für 92 Mark Miete findet, hält vor der realen Kneipentür ein Biker mit schwarz-gelbem Borussia-Schal. Der Motor heult auf, das Publikum klatscht.

Die Lange Buchnacht, die zum ersten Mal 1998 statt fand, hat nichts von ihrem Charme verloren. Berlins älteste unabhängige und größte Literaturveranstaltung dieser Art wächst stetig. Sie lockte am Samstag mit über 100 Lesungen und Veranstaltungen in genau 49 Bars, Buchhandlungen, Bibliotheken, Kirchen und Kindergärten mehr als 15.000 Besucher an. Und doch hat man in keiner der Lesungen je das Gefühl, in eine literarische Großveranstaltung geraten zu sein – dass Menschen hektisch von Laden zu Laden laufen würden, die Nase stets im Programmheft. Eher wirkt das meist mittelalte bis alte Publikum, als wohne es hier. Man bummelt von Laden zu Laden, isst Kebab, verweilt hier und da und hört gut zu, wenn es sich lohnt.

Da passt es auch wunderbar, dass viele Lesungen von Autoren der Gegend bestritten werden – dass viele Bücher, die an diesem Abend Gegenstand werden, vom alte Westberlin handeln. So dreht sich die lakonische Milieustudie von Johannes Groschupf um das alte Neukölln, bevor die Hipster kamen – und das in der Kulisse jener Kneipe „Zum Elefanten“, in der Teile von „Herr Lehmann“ gedreht wurden!

Eine Stunde später, im Wirtshaus Max und Moritz, sagt Bernd Caillox, er werde nun eine Passage seines Buches lesen, die man nicht überall lesen kann. Sein Roman „Gutgeschriebene Verluste“ handelt wie der von Johannes Groschupf von der großen Zeit der Mauerstadt um 1980, als alles darum ging, wie es bei Cailloux heißt, „anders zu leben als im Rest der Republik“. Ach ja.

Bernd Cailloux – dieser Melancholiker mit dem leicht verwitterten Aussehen, der supersonoren Stimme und dem kaminholztrockenen Humor – Bernd Cailloux ist ein großer Vorleser. So viele Leute haben ins Max und Moritz gefunden, dass nicht alle einen Sitzplatz ergattern können. Und doch lauschen selbst jene die Lesung hindurch gebannt, die sich unter die Stehtische kauern. Cailloux hat recht: Leute wie diese können vertragen, was er liest. Sie amüsieren sich sehr über das Selbstmitleid des Romanhelden, als er sich um seine Hepatitis C kümmern muss.

Als die Lesung vorbei ist und man ganz verzaubert auf die Straße tritt, ist es plötzlich Nacht geworden, der Fußball-Lärm ist verhallt. Nur hin und wieder noch mischt sich ein Fan mit hochzufriedenem Gesicht unter die Passanten auf der belebten Oranienstraße. Mag sein, dass dieser Ort auf manche wie ein Erlebnispark wirkt: Heute, am Abend der langen Buchnacht, funktioniert er und ist so lebendig, wie er nur sein kann. Selbst in der nahe gelegenen Markthalle – einem nicht minder historischen Ort – ist das noch so. Es ist schon nach 23 Uhr, und anlässlich der Kulinarischen Lesenacht haben ein paar Stände offen. Auch Publikum ist noch da. Man trinkt und isst. Autor und Lesebühnenmitglied Jakob Hein trägt aus „Wurst und Wahn“ vor, seiner unterhaltsamen Satire aufs Modevegetariertum.

Plötzlich passiert ein junger Mann vom Spargelstand die Bühne. Wie eine Trophäe hält er seinen riesigen Pürierstab. Eine Zuhörerin mit kurzen grauen Haaren und schwarzem Ledersacko verschluckt sich an ihrem Bier: Sie kippt fast von der Bank vor Lachen.

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