Lila Avilés über ihren Film „Tótem“: „Der Moment, bevor es losgeht“

Sterben und Abschied nehmen: Der Film „Tótem“ ist Mexikos Beitrag für die Oscars. Regisseurin Lila Avilés über Rituale und intuitives Filmemachen.

Ein Mädchen liegt mit ihrem Kopf auf einem Sofa und schaut traurig

Sol (Naíma Sentíes) will ihren Vater an seinem Geburtstag sehen Foto: Piffl Medien

Tona hat Geburtstag und im Haus der Großfamilie sind die Erwachsenen mit Vorbereitungen beschäftigt. Seine siebenjährige Tochter Sol beobachtet das Treiben, ihr unbefangen kindlicher Blick ist offen für die Geheimnisse und Geister der Familie. Ihr Vater ist sterbenskrank, die Feier wird so auch ein Abschied. Mit „Tótem“ gelang der mexikanischen Regisseurin Lila ­Avilés ein bittersüßes Kinowunder und einer der schönste Filme der diesjährigen Berlinale, der nun für Mexiko ins Oscarrennen geht.

taz: Frau Avilés, wie kamen Sie auf den Titel Ihres Films?

Lila Avilés: Ich liebe Worte, die viele Bedeutungen haben, wie „Tótem“ oder „Talisman“. Linguistik fasziniert mich. In jedem Land erzählen mir Leute etwas anderes, was dieses Tótem ist. Und ich antworte immer sehr emphatisch: Ja! Auch wenn es ein sehr persönlicher Film ist, sieht je­de*r etwas anderes darin. Er gehört jetzt allen. Das finde ich wundervoll.

Trotzdem bedeutet er etwas für Sie persönlich.

Die Regisseurin Lila Avilés wurde 1982 in Mexiko-Stadt geboren. Sie gründete 2018 die Produktionsfirma Limerencia Films und drehte im selben Jahr ihr Spielfilmdebüt „La camarista“, das Mexikos offizieller Oscarkandidat in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film für die Verleihung 2020 war. Ihre zweiter Spielfilm, „Tótem“, lief dieses Jahr im Wettbewerb der Berlinale.

Ich kann nicht anfangen ein Drehbuch zu schreiben, solange ich nicht weiß, wie der Film heißt. Das Wort „Tótem“ kam mir, als ich ein altes Foto von meiner Tochter und mir sah, als sie noch sehr klein war, vielleicht vier. Wir alberten herum, sie saß auf meinen Schultern und wir hatten eine Decke übergeworfen, so dass nur ihr Kopf zu sehen war und sie wie ein Riese wirkte. Als ich es sah, dachte ich: wie ein Totem. In dem Moment kamen mir alle möglichen Assoziationen, ich verband es mit den Totems, die wir aus indigenen Kulturen kennen, aus Nordamerika, aus Australien, auch hier in Mexiko von den Tolteken. Ein Totem ist etwas Animistisches, es geht um das Verhältnis des Tierreichs mit den Menschen, mit dem Stamm. Ab dem Moment wusste ich, was ich erzählen wollte und ich konnte anfangen zu schreiben.

Sie haben den Film Ihrer inzwischen 17-jährigen Tochter gewidmet. Warum?

Weil es eine sehr persönliche Geschichte ist. Ich wollte etwas Eindrückliches und Bleibendes für meine Tochter schaffen. Es fiel mir sehr schwer, eine Distanz zu finden und die Geschichte zugleich lebendig werden zu lassen. Ich musste sie verfremden, dennoch bleibt sie nah an unseren Erinnerungen. Der Film ist unser Totem.

Im Zentrum des Films steht die siebenjährige Sol, die beobachtet, wie die Familie die Geburtstagsfeier für ihren krebskranken Vater vorbereitet. Warum wollten Sie sich auf diesen Moment konzentrieren?

Ich liebe Rituale. Für mich vereint diese Feier Geburt und Tod gleichermaßen. Und ich mag es, einen Mikrokosmos zu erschaffen, in dem alles passiert. Der Film handelt von einer Familie und einem Haus und wie ein Haus zu einem Heim wird, wie wir leben und Heimat finden, im Kleinen und in dieser Welt als Ganzes. Das Haus repräsentiert auch Mexiko, wie wir uns selbst sehen, unsere Vergangenheit, unsere Spiritualität. Wir sind wie Schlangen, wir legen unsere Häute ab, verändern uns ständig, werden andere, durch das, was wir erleben. Diese Momente sind es, die zählen. Das Leben ist unbeständig, ein dauernder Wandel. Es ist wichtig, das wahrzunehmen, präsent zu sein.

Der Film ist voll von diesen sehr lebendigen, organischen Momenten, bei denen man sich als Zuschauer wie ein unsichtbarer Beobachter mittendrin fühlt. Wie sind Ihnen diese gelungen?

Ganz verstehe ich es selbst nicht. Ich bin wahnsinnig intuitiv. Ich habe nie Film studiert, ich kam als Außenseiterin. Ich verehre Werner Herzog, ich bin so ein komischer Vogel wie er. Ich liebe es zu spielen, dem Mysterium des Mediums nachzuspüren. Kino ist letztlich unergründlich. Schon meinen ersten Spielfilm, „Das Zimmermädchen“, haben in Mexiko viele für einen Dokumentarfilm gehalten. Für mich liegt alles im Schauspiel, das so natürlich wie möglich sein soll. Ich liebe die Filme von John Cassavetes, dieses Vibrierende, selbst wenn es nicht perfekt ist, spürt man, dass etwas passiert, das echt ist. Viel hat mit der Besetzung zu tun, mir ist beim Casting wichtig, ein Gespür für die Person zu bekommen. Egal, ob Profi oder Laie, es sind weniger Sprechproben als intensive Gespräche, bei denen ich schnell merke, ob jemand offen ist und mir vertraut. Das ist das A und O. Es geht darum, präsent zu sein, den Moment wahrzunehmen, darauf lege ich viel mehr wert als auf die richtige Ausleuchtung. Das bringt mich oft in Schwierigkeiten mit meinen Regieassistenten, weil es mit mir sehr schwer ist, alles unter Kontrolle zu behalten. Ich probiere aus und manchmal gelingt ein magischer Moment.

Wie entstand zum Beispiel die lange Feierszene am Ende des Films?

Die Geschichte und die Menschen sind mir wichtig, die Filmform passe ich daran an

Die haben wir innerhalb von zwei Tagen gedreht. Mir geht es immer um Freiheit und Intuition, im Leben wie im Beruf. So ticke ich. Meine Mutter sagte immer: „El trabajo nunca te abandona“ – die Arbeit verlässt dich nie. Beim Dreh reagiere ich auf den Moment, ändere ständig etwas. Es gibt Regisseure, die für ihren prägnanten Stil bekannt sind. Ich finde die Geschichte und die Menschen wichtiger, ich passe die Form daran an. Ich suche nach etwas Wahrhaftigem, der Seele des Films, vielleicht ist das mein Stil.

Das Spiel Ihrer jungen Hauptdarstellerin Naíma San­tíes hat nichts Aufgesetztes, wirkt natürlich. Wie haben Sie sie gefunden?

Der Film lebt von seinen Figuren, das wusste ich von Anfang an. Ich bin besessen von naturalistischem Schauspiel. Wir schauten uns kaum mehr als 30 Mädchen an. Naíma hatte noch nie vor einer Kamera gestanden und ihr erstes Vorsprechen war ein ziemlicher Reinfall. Aber dann fingen wir an, uns zu unterhalten, mir gefiel, wie sensibel sie über Dinge redete. Ich lernte Naíma in einer schwierigen Phase kennen. Es war während Covid, sie war damals acht, hatte ihre Freunde lange nicht gesehen, lebte bei ihrem Großvater, der sie unterrichtete. Sie wirkte ziemlich verloren. Wir haben uns auf eine Art gegenseitig gefunden. Ich erkenne viel von mir in ihr wieder.

Sie verzichten fast komplett auf Filmmusik. Erst im Abspann ist ein Stück zu hören, das wie das Einstimmen eines Orchesters klingt, eine Art komponierte Kakofonie.

Wie schön, dass Sie das erwähnen. Es ist der Sound, den ich auf der ganzen Welt am meisten liebe. Ich komme vom Theater und der Oper, ich habe jahrelang an Bühnen gearbeitet. Es ist der Moment, bevor es losgeht, ein magischer Augenblick. Ich setze es an den Schluss des Films, weil ein Ende auch der Beginn von etwas Neuem ist. Und dann ist eine Mädchenstimme zu hören. Das ist meine Tochter, eine Aufnahme aus ihrer Kindheit. Ich konnte den Film nur mit ihr beenden. Sie ist meine härteste Kritikerin, aber als sie den Film zum ersten Mal sah, im Februar in Berlin, flossen bei uns beiden die Tränen. Diesen Moment werde ich nie vergessen.

„Tótem“ ist nun der mexikanische Beitrag für die kommenden Oscars. Die nächsten Monate werden wohl aufregend. Gibt es schon Pläne für die Zeit danach?

„Tótem“. Regie: Lila Avilés. Mit Naíma Sentíes, Montserrat Marañon u. a. Mexiko/Dänemark/Frankreich 2023, 95 Min.

Ich war smart genug, noch vor Berlin ein neues Drehbuch zu schreiben. Das war mir wichtig, weil ich nicht einschätzen konnte, wie lange ich mit „Tótem“ um die Welt reisen würde. Und ich hatte Angebote, aus meinem Debütfilm eine Serie zu machen, habe daran aber kein Interesse: Ich will meinen eigenen Weg gehen. Und das funktioniert nur, wenn ich nicht zu viel Zeit zwischen Filmen verstreichen lasse. Aber die Suche nach Geld ist immer wieder ein Kampf.

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