Massenüberwachung im Netz: Streit über Chatkontrolle geht weiter

Die geplante EU-Verordnung zur Massenüberwachung im Netz verzögert sich. Nicht einmal die Bundesregierung kann sich auf eine Position verständigen.

Eine Person schaut auf ein Smartphone

Der Eingriff in die Privatsphäre sei nicht verhältnismäßig, sagen Experten Foto: Weronika Peneshko/dpa

BERLIN taz | Man kennt sie, die schockierenden Berichte über sexualisierte Gewalt an Kindern. Gerade im Netz scheinen derartige Darstellungen häufiger zu werden. In der Hoffnung, Tä­te­r:in­nen schneller zu identifizieren, hat die EU-Kommission im vergangenen Jahr eine Verordnung mit Überwachungsbefugnissen in nie gekanntem Ausmaß vorgeschlagen.

Der gesamte Datenverkehr im Netz solle auf Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern und sexuell motivierte Kontaktaufnahme mit Minderjährigen gescannt werden. Auch verschlüsselte Kommunikation und verschlüsselte Speicher sollen davon nicht ausgenommen sein. Die Überwachung würde somit nicht nur Verdächtige, sondern alle Menschen in der EU betreffen.

Der Vorschlag zog einen Sturm der Empörung nach sich. Kinderschützer:innen, Wirtschaft, IT-Fachleute, Bür­ger­recht­le­r:in­nen lehnen die Chatkontrolle in seltener Einmütigkeit ab. Der Eingriff in die Privatsphäre sei nicht verhältnismäßig, der Vorschlag technisch nicht umsetzbar und außerdem nicht zielführend für die Bekämpfung sexualisierter Gewalt.

FDP will unverschlüsselte Kommunikation schützen

Eigentlich wollten sich die EU-Mitgliedstaaten Ende September auf eine gemeinsame Position verständigen. Doch daraus wurde nichts. Auf Betreiben Deutschlands wurde die Abstimmung über den Entwurf wieder von der Tagesordnung des verantwortlichen Ausschusses gestrichen. Das bestätigt das Innenministerium der taz. Wie es heißt, habe der Widerstand in den Mitgliedstaaten zugenommen. Es sei absehbar gewesen, dass der Vorschlag nicht die erforderliche Mehrheit erreichen würde. Neben Deutschland stellen sich mittlerweile auch Österreich, Polen, Schweden und die Niederlande gegen die Verordnung.

Auch die Bundesregierung ist sich bisher nur bei der Ablehnung des Entwurfs einig. Bei den Verbesserungsvorschlägen sind die Fronten zwischen Innen- und Justizministerium aber weiter verhärtet. Unstrittig ist, dass verschlüsselte Kommunikation, also beispielsweise Messenger-Dienste wie Whatsapp oder Signal, von der Überwachung ausgenommen sein soll.

Das betonte Anfang Oktober eine Sprecherin des sozialdemokratisch geführten Innenministeriums auf taz-Anfrage: „Maßnahmen, die zu einem Bruch, einer Schwächung, einer Modifikation oder einer Umgehung von Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation führen, schließen wir ausdrücklich aus.“ Schon im April dieses Jahres habe man entsprechende Forderungen nach Brüssel übermittelt.

Doch die gehen der FDP nicht weit genug. Justizminister Marco Buschmann will unbedingt verhindern, dass unverschlüsselte private Kommunikation, zum Beispiel E-Mails, und Cloudspeicher, überwacht werden. Aus Regierungskreisen hieß es Anfang Oktober, das Justizministerium werbe im Kreis der Mi­nis­te­r:in­nen weiter für die FDP-Position.

Die entspricht dem rot-grün-gelben Koalitionsvertrag, in dem vereinbart ist, Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation abzulehnen – ganz gleich, ob verschlüsselt oder unverschlüsselt. Geeinigt hat sich die Ampel trotzdem noch immer nicht.

Dichtes Lobbygeflecht rund um Chatkontrolle

Befeuert wird der Streit von Recherchen mehrerer Medien, die das Lobbygeflecht rund um die Chatkontrolle aufzeigen. Besonders die verantwortliche EU-Kommissarin Ylva Johansson habe demnach die Nähe von Lobbyorganisationen gesucht, die unter dem Deckmantel des Kinderschutzes ein wirtschaftliches Interesse an der Chatkontrolle haben. So seien sie an Unternehmen beteiligt, die Technik für das Scannen von Kommunikationsdaten entwickeln.

Seit der Entwurf im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, kritisieren Fachleute, dass manche der geplanten Maßnahmen nach derzeitigem Stand der Technik nicht realistisch seien. Alle heute verfügbaren Systeme, die die riesigen Mengen an Kommunikationsdaten auswerten könnten, haben Fehlerquoten.

Selbst wenn die nur bei wenigen Prozent liegen, bedeutet das für die Ermittlungsbehörden Millionen von fehlerhaften Meldungen täglich – ein kaum zu bewältigender Aufwand für Behörden, die schon heute nicht allen Hinweisen auf Gewaltdarstellungen im Netz nachgehen können, weil sie häufig unterbesetzt und unterfinanziert sind.

Europol will Chatkontrolle ausweiten

Befürchtungen gibt es auch, dass die Chatkontrolle nach der Verabschiedung auf andere Bereiche ausgedehnt werden könnte. Den Lobby-Recherchen zufolge hat die europäische Polizeibehörde Europol bei der EU-Kommission bereits gefordert, die Online­kommunikation auch auf terroristische Inhalte hin auszuwerten. Außerdem wollen die Be­am­t:in­nen alle Kommunikationsdaten zur Verfügung haben, um sie unter anderem zum Training von Algorithmen zu verwenden.

Wie es aus Regierungskreisen heißt, hat die Bundesregierung Ende September vorgeschlagen, die Regelungen zur Chatkontrolle aus dem Entwurf herauszulösen und gesondert zu diskutieren.

Ein Schreiben der spanischen EU-Ratspräsidentschaft, über das zuerst das Nachrichtenportal Euractiv berichtete, schlägt hingegen einen anderen Kompromiss vor: Zunächst sollen die Kommunikationsdaten nur auf bereits bekannte Missbrauchsdarstellungen gescannt werden, was technisch einfacher umzusetzen wäre. Der Vorschlag würde für verschlüsselte wie für unverschlüsselte Kommunikation gelten. Das Problem der anlasslosen Massenüberwachung wäre damit aber nicht gelöst.

Als mögliches Verhandlungsdatum im verantwortlichen Ausschuss steht der 19. Oktober im Raum, bislang ist der Punkt auf der Tagesordnung aber nur als vorläufig vermerkt. Erst dann können die Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und EU-Parlament beginnen.

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