Museumschefin über Postkolonialismus: „Historie ist nicht unantastbar“

Multiperspektivisches Denken: Das Ostfriesische Landesmuseum und das Deutsche Marinemuseum kartieren (post-)koloniale Erinnerungen im Nordwesten.

Eine alte Postkarte zeigt gezeichnete Motive aus Wilhelmshaven, unter anderem Kanonen mit Reichkriegsflaggen

Vom Kolonialismus geprägt: Postkarte „Gruss aus Wilhelmshaven“ Foto: Archiv

taz: Frau Alley, der Versuch, die Schrecken des europäischen Kolonialismus aufzuarbeiten, ist ein noch junges Phänomen. Lange wurde ignoriert, verdrängt, geschwiegen. Was ist Ihre Motivation, sich in die Aufklärung einzureihen?

Jasmin Alley: Als Museum, als Erinnerungsinstitution, stehen wir vor einem Problem, vor dem viele Museen stehen: Unsere Sammlung ist ein hegemonialer Ort; ihre Perspektive ist die der Kolonisierer, der ehemaligen Kolonialherren. Unsere Sammlungspräsentation ist sehr klassisch. Ich arbeite daran, die Narrative in unserem Museum zu verändern, unterschiedliche Positionen sichtbar zu machen, multiperspektivisch, auch über den Kolonialismus hinaus. Aber gerade dieses Thema ist eng mit dem gegenwärtigen Gedanken der Diversität verknüpft, und diesen Diskurs will ich fördern.

Die Tagung zielt auf den „Beginn einer ‚Kartierung‘ (post-)kolonialer Erinnerungsorte und Ak­teu­r:in­nen im Nordwesten Deutschlands“. Das klingt nach Defiziten. Wie sind die zu erklären?

Die Aufarbeitung des Kolonialismus ist vor allem durch AktivistInnen angestoßen worden; sie ist ein Verdienst von Menschen außerhalb von Institutionen. In der Peripherie, jenseits von Städten wie Berlin oder Frankfurt am Main, gibt es nicht so viele von ihnen; die Institutionen haben dort lange nicht den Druck verspürt, sich ebenfalls diesem Thema zu stellen. Erst heute dringt das zu ihnen vor. Hinzu kommt, dass die meisten von ihnen sehr homogen sind, sehr weiß, dass sie aus der Innensicht Leerstellen haben. Sie können diese Perspektiven nicht sehen.

Deshalb sind für Ihre Tagung auch AktivistInnen eingeladen, nicht nur WissenschaftlerInnen?

Ja, ganz bewusst. Das wird sehr heterogen, auch unter denen, die bei uns sprechen werden. Es geht nicht zuletzt darum, Deutungshoheit abzugeben, als Institution. Ich möchte Menschen mit Rassismuserfahrung ansprechen, Menschen die sich als Schwarz oder als People of Color identifizieren. Ich möchte, dass sie sehen: Es verändert sich etwas; auch meine Position ist hier repräsentiert. Auch Tahir Della kommt, von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, und das freut mich wirklich sehr. Menschen wie er sind Vorbilder und bieten Identifikation für Schwarze Menschen hier vor Ort.

Es geht also um Bewusstseinsweckung?

41, ist Direktorin des Ostfriesischen Landesmuseums Emden. Sie hat Anthropologie, Ethnologie und Museologie studiert.

Wir wollen einerseits ein Bewusstsein dafür erzeugen, welche Themen überhaupt bei uns anstehen, historisch gesehen. Zugleich geht es darum, eine Kartierung von denjenigen zu erstellen, die aktivistisch im Nordwesten unterwegs sind. Und wir versuchen Menschen mitzunehmen, die zwar Leerstellen sehen, sich aber bisher nicht engagieren und das Museum nicht als ihren Ort begreifen.

Was, wenn es Stimmen gibt, die sagen: Wozu das Ganze?

Wir sind eine ländlich geprägte Region. Es gibt hier viele ältere Menschen, und sicher auch viele, die das Thema Kolonialismus für unwichtig halten. Aber an denen will ich mich nicht abarbeiten. Wir wollen einen Raum für Gespräche schaffen; von diesen Räumen gibt es viel zu wenige hier im Nordwesten. Wir müssen auf die Jüngeren fokussieren, damit sich ihre Lebensrealität ändert. Es gilt, sich kennenzulernen, Kräfte zu bündeln, sich gegenseitig zu empowern.

Emden und Wilhelmshaven waren Mitorganisatoren und Nutznießer des Kolonialismus. Welche Spuren davon lassen sich noch finden?

Unser Museum besitzt Karten des afrikanischen Kontinents, Schiffsmodelle, Urkunden, die auf den Versklavungshandel im 17. Jahrhundert hindeuten. Leider sind das Spuren, die nicht besonders sichtbar sind bei uns im Haus und bei denen sich nicht unmittelbar erschließt, wofür sie stehen. Es gibt Kanonen, die in Emden stehen und aus dem damaligen Groß Friedrichsburg, heute Princes Town in Ghana, stammen, die auf den Versklavungshandel hinweisen und an der Knock, dem Pumpwerk am Dollart, finden sich zwei Denkmäler für Friedrich Wilhelm, den Kurfürsten von Brandenburg, mit dem im 17. Jahrhundert die deutsche Kolonialzeit beginnt. Aber auch das offenbart sich nicht sofort als Spur des Kolonialismus.

Viele denken, die deutsche Kolonialzeit beginnt erst in den 1880ern.

„Unsere Sammlung ist ein hegemonialer Ort; ihre Perspektive ist die der ehemaligen Kolonialherren“

Ja, und in dieser Zeit sind viele unserer heutigen Museen entstanden, als Welterklärungsmaschinen, als Orte der Kategorisierung, botanisch, ethnologisch und national. Aber die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie ist 200 Jahre älter. Emden war schon damals in den Kolonialismus involviert; Wilhelmshaven repräsentiert eher den des 19. Jahrhunderts. Das hat ein Weltbild erzeugt, das Hunderte Jahre alt ist. Deshalb dauert es jetzt auch so lange, es zu verändern.

Der Kolonialismus war voller Düsternisse, von der Sklaverei bis zu Enteignung, Hunger und Krieg. Warum sprechen wir erst heute über dekoloniale Erinnerung?

Das hat mit gegenwärtigen Machtstrukturen zu tun, mit der noch immer bestehenden Asymmetrie zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Die Wirkmächtigkeit des Kolonialismus reicht bis in die heutige Zeit, und eine ihrer Dimensionen ist der Rassismus. Der Kolonialismus ging mit Völkermord und Ausbeutung einher, der Entwertung von Menschen. In Gesellschaften, die sich als demokratisch bezeichnen, als freiheitlich, passt eine solche Vergangenheit nicht ins Weltbild; heute haben wir andere ethische Ansprüche. Niemand will als rassistisch gelten. Aber statt zu lernen, reagiert die weiße Mehrheitsgesellschaft oft noch immer mit Ablehnung. Das ist eine kognitive Dissonanz.

Manche behaupten ja bis heute, der Kolonialismus sei eine Zivilisierungstat gewesen. Gerade im rechten Spektrum spült derzeit erschreckendes Gedankengut wieder hoch.

Genau. Alexander und Margarete Mitscherlich haben in den 1960ern in „Die Unfähigkeit zu trauern“ anhand der NS-Zeit darüber geschrieben, dass es keine wirkliche Vergangenheitsverarbeitung gegeben hat. Das gilt auch für den Kolonialismus. Dann leben Ideen im Unterbewusstsein weiter. Und heute, in einer Zeit des Zweifelns an der Demokratie, weil der Kapitalismus und die Wachstumsideologie nicht mehr wie gewohnt funktionieren, kommen sie wieder an die Oberfläche.

Wie geht man mit Spuren der Kolonialzeit um? Mit Orten wie den Denkmälern an der Knock?

Da braucht jeder Einzelfall seine eigene Strategie. Aber Text allein entkräftet nicht. Es geht darum, auch visuell zu stören. Manche sagen, das ist doch ein Geschichtszeugnis, das muss man so belassen. Aber Historie ist nicht unantastbar, und unser Umgang mit Denkmälern repräsentiert unsere Haltung der Gegenwart. Es ist legitim, sich zu fragen, welche man noch braucht, um zu zeigen, was war. Das diskutieren wir auch auf der Tagung: Dekolonisierung des Stadtraums. Bilder, die rassistische Narrative reproduzieren, würde ich bei uns im Hause nicht zeigen.

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