NS-Gedenken in der Kunst: Wie ein völkisches Betriebssystem

Eine Ausstellung in Darmstadt fragt nach unserem Umgang mit dem NS. Seit dem 7. Oktober erhält es eine unheilvolle Aktualisierung.

Ausschnitt eines Plakats aus der ehemaligen DDR mit einer Friedenstaube

Ausschnitt eines DDR-Plakats: „20. November 1945“ von Leon Kahane, 2022 (Detail) Foto: Sascha Herrmann; (c) Leon Kahane, Galerie Nagel Draxler Berlin/Köln/München

Ein gelber Minibus fährt in Schrittgeschwindigkeit durch Tiflis. Die aufgebrachte Menge raunt. Da sind sie drin! Ihr Zorn will sich entladen, doch nicht alle kommen sie hin zu den Menschen, die einige Polizisten allenfalls notdürftig schützen.

Kurz zuvor hat ein Mob das Pride-Festival gestürmt. Schwulenfeindliche Parolen brüllt man nun jenen verängstigten TeilnehmerInnen entgegen, die im Bus sitzen und hilflos mitansehen müssen, wie die Scheiben eingeschlagen werden. Der Horror beginnt mit jedem Abbrechen einer Szene von Neuem.

„in situ“: Kunsthalle Darmstadt, bis 7. Januar

Fünfzehn verschiedene Found-Footage-Aufnahmen hat Soso Dumbadze für seine Videoarbeit „A Yellow Bus“ (2017) zusammengetragen. Ursprünglich als räumliche 15-Kanal-Installation angelegt, wird sie jetzt als lineare Projektion in der Kabinettausstellung „in situ“ der Kunsthalle Darmstadt gezeigt.

Die Schau will Antworten in der zeitgenössischen Kunst suchen, wie an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert werden könnte. Konzipiert wurde sie weit vor den aktuellen Ausschreitungen, die der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober bei Protesten hierzulande zur Folge hat. Jetzt, bei der Eröffnung, herrscht eine gewisse Sprach- und wohl auch Hilflosigkeit. Dabei ist ja kein Ausstellungshaus zu außenpolitischen Statements verpflichtet.

Statt wie sonst allerorten halbherzig und halbinformiert über den Nahen Osten zu diskutieren, wird hier immerhin viel naheliegender überlegt, wieso der bemerkenswert offen ausagierte Hass gegen Jüdinnen und Juden weltweit als so selbstverständlich empfunden wird.

Der NS als Klassenfeind

Künstler Leon Kahane benennt beim Eröffnungstalk den Elefanten im Raum. Anhand seiner ausgestellten Arbeiten, für die er auf eine Sammlung mit politischen Plakaten aus der ehemaligen DDR zurückgriff, macht er einen Kitt aus: „Antisemitismus als völkisches Betriebssystem“. Bezogen auf die DDR bedeutete dies, dass der „Klassenfeind“ im Moment der Neuerfindung eines Selbstbilds für den realsozialistischen Staat mit dem NS gleichgesetzt werden musste: ergo mit dem Westen.

„20. November 1945“ von Leon Kahane, 2022

„20. November 1945“ von Leon Kahane, 2022 Foto: Sascha Herrmann; (c) Leon Kahane, Galerie Nagel Draxler Berlin/Köln/München

„Es herrschte ein fundamentales Missverständnis darüber, was eigentlich der Nationalsozialismus war“, so Kahane. Reale Opfer wurden in dieser Logik häufig ein zweites Mal unsichtbar gemacht.

Die Journalistin und taz-Autorin Anastasia Tikhomirova bestätigt dies bei dem Gespräch. Ihre Eltern kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, „wo dann aus dem Nationalsozialismus der Faschismus wurde“ (auch der Ausstellungstext setzt bisweilen die Begriffe synonym) und Juden explizit nicht als Opfer dieser Ideologie benannt wurden. Ähnliche „ideologische Verdrehungen“ sieht Kahane heute im postkolonialen Denken westlicher Prägung.

Die Kritik am Postkolonialismus allein will Simon Nagy beim Eröffnungstalk nicht stehenlassen. Er gehört der Wiener Gruppe Schandwache an, die sich mit dem Denkmalsturz einer Statue des österreichischen Politikers und Antisemiten Karl Lueger (1844–1910) auseinandersetzt. Auch Nagy ist fassungslos, „dass Menschen, die sich täglich damit beschäftigen, was es heißt, Bilder oder Text zu produzieren, jetzt diesem Denken anheimfallen“. Das betreffe keineswegs nur die Kunstwelt.

Von der Unmöglichkeit, Bücher respektvoll zu entsorgen

So lohnt diese kleine Ausstellung vielleicht gerade, wenn sie keine Antworten auf ihre eigene Aktualisierung findet und somit keine erlösende Katharsis von der Geschichte und ihren Kontinuitäten. Kahanes ausschnitthaft vergrößertes, jeglichem Kontext entzogenes DDR-Plakat ziert die Vorschau: Eine weiße Taube flattert über blauen Grund. Wer kann schon etwas gegen Frieden haben, fragt der Künstler rhetorisch. Der Kitsch liegt nicht weit.

Abie Franklins sehenswerter Video-Essay handelt von der Unmöglichkeit einer respektvollen Entsorgung von Büchern (und von der Bücherverbrennung als verbindendes Element der autoritären Herrschaft). Jonas Höschl setzt Kriminalromane von E. W. Pless hinter Milchglas – seines Namens laut Wikipedia in den 1970er Jahren „Neonazi, PLO-Mitglied und Beschaffer von Waffen für palästinensische Terroranschläge“. Ebenfalls unter Glas versteckt sich eine Ausgabe der Sunday Times, die stolz die Verpflichtung Leni Riefenstahls als abermalige Fotografin der Olympiade verkündet.

Der Weg hinausführt dann wieder vorbei an Dumbadzes „A Yellow Bus“, der seinen Insassinnen und Insassen keinen echten Schutz vor den Entfesselten verspricht. Jeder Ausschnitt zeigt einen anderen Winkel auf das Geschehen. Wer nicht hört, was die Menge skandiert, und ihre bedrohlichen Arme nicht sieht, die nach den Menschen im Bus greifen, könnte sie leicht für soziale Gerechtigkeitskämpfer halten.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Anastasia Tikhomirova sei in der Sowjetunion geboren worden. Das trifft nicht zu, die Stelle wurde geändert.

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