Netflix ändert seine Strategie: Weniger Masse, dafür Klasse

Netflix bringt weniger Eigenformate heraus. Eine Tendenz, die auch bei anderen Plattformen zu beobachten ist. Was passiert da in der Branche?

Figuren aus der Netflix-Serie "Stranger Things"

Wurde vorhersehbar und plump: Netflix-Serie „Stranger Things“ Foto: Netflix via ap

Viele Netflix-Nutzer:innen sind sich einig: Die Qualität der Serien hat nachgelassen. Damit haben sie recht. Denn Netflix fällt seinem eigenen Konzept zum Opfer. Der Videoverleih fand Mitte der 2000er seinen Weg ins Internet und 2014 mit einer überschaubaren Anzahl an Titeln als Streaming-Plattform auch nach Deutschland. Zu Beginn gab es nur fünf Eigenproduktionen auf Netflix Germany. Jetzt – Stand Anfang Dezember 2023 – zeigt die Plattform laut der inoffiziellen Netflix-Suchmaschine Unogs in Deutschland mehr als 4.500 Filme und 2.600 Serienepisoden, viele davon sind Eigenproduktionen.

Doch Titelmasse kann Nut­ze­r:in­nen nicht nur überfordern. Es gibt zudem keinen linearen Zusammenhang zwischen der Menge an Serien, die produziert wird, und der Menge an großartigen Serien, die dabei herauskommt. Die schwindende Serienqualität zeigte sich schon bei den frühen Eigenproduktio­nen von Netflix. Der Untergang von „House of Cards“ hätte verhindert werden können, hätte man wie ursprünglich geplant mit der Ernennung von Frank Underwood zum Präsidenten aufgehört.

Doch klingelnde Kassen verlangten ein Weitermachen. Die Serie verlor ihren Fokus, und das schwindende Interesse an den Charakteren ließ sie verblassen. Auch bei der Kult­serie „Black Mirror“ trennte sich Net­flix von dem, was sie so herausragend machte: Die ehemals gut durchdachte Tech-Dystopie wurde vorhersehbar und plump. Staffeln können jetzt gedankenlos weggebinged werden. Was bleibt: Horror gespickt mit einer Prise Pseudo-Psychologie.

Hat sich Netflix mit seinem Angebot sein eigenes Grab geschaufelt? Der Strea­minganbieter wollte das lineare Fernsehen ablösen, dem Publikum die Autonomie erteilen, selbstbestimmt über das Programm zu entscheiden. Doch die meisten Menschen sind so unterhaltungsgetrieben, dass sie eine Folge nach der anderen schauen – bis zur völligen Übersättigung. Ein All-you-can-eat-Buffet, bei dem man alles in sich hineinstopft und dann drei Tage Bauchschmerzen hat.

Durch das veränderte Konsumverhalten der Nut­ze­r:in­nen wird mehr produziert. Die wiederum schauen mehr. Das Ganze spitzt sich so lange zu, bis eine allgemeine Überforderung beim Publikum eintritt. Und die wird zusätzlich durch die große Netflix-Konkurrenz gefördert. Nut­ze­r:in­nen sind nicht mehr einem Streaming-Dienst treu, sondern wechseln beliebig hin und her. Medienunternehmen beenden lukrative Lizenzverträge und ziehen ihre Inhalte von den größeren Plattformen ab, um diese exklusiv anbieten zu können. Marvel (gehört zu Disney+) hat genau das bei all seinen Netflix-Shows getan.

Erzwungene Wende durch Pandemie

Noch hält sich die Streaming-­Branche über Wasser. Die erfolgreichsten Serien auf Netflix „Squid Game“, „Stranger Things“ und „Wednesday“ wurden in den ersten vier Wochen nach Veröffentlichung alle über 1,2 ­Mil­liarden Stunden geschaut. Trotzdem überzeugt keine mit herausragender Qualität, geschweige denn Originalität.

Diese kurzfristigen Hochs werden die Branche jedoch nicht retten. Jahrelang haben Netflix und andere Streaming­anbieter exorbitante Summen ausgegeben, ohne sicher zu sein, dass sie langfristig Gewinn machen werden. Das war sogenanntes Peak TV. Sie kippten dem Publikum eine überwältigende Anzahl an Sendungen vor die Füße. Mit der Pandemie war damit Schluss: Es kam zu Dreh- und Produktionsstopps, die Netflix Geld kosteten und den Unternehmenswert minderten.

Mit dem erstmaligen Rückgang der Abos im April 2022 muss die Branche umdenken. Statt das Angebot zu erweitern, geht es nun darum, sich mit exklusiven Inhalten abzugrenzen. Bob Iger, CEO von Disney, hat angekündigt, dass Disney+ sein Angebot an Familien- und Franchise-Inhalten verdoppeln und bei der allgemeinen Unterhaltung auf die Bremse treten wird. Auch Werbung wird verstärkt als Einnahmequelle genutzt. Seit dem 1. November 2022 zahlen Netflix-Nutzer:innen weniger als die Hälfte vom normalen Abopreis – wenn sie sich dafür Werbung ansehen.

Laut Netflix-Ergebnisbericht für das erste Quartal bringt „Basic with Ads“ in den USA mehr Gesamtumsatz pro Nut­ze­r:in als der Standardplan des Unternehmens. Und es wird eingespart – also ­abgesetzt: Laut der Webseite „What’s On Netflix“ soll Netflix im Jahr 2023 ­ins­gesamt 130 Originalformate weni­ger herausgebracht haben als noch 2022. Dies ist ein Rückgang von 16 Prozent.

Streik zeigt Wirkung

„Mindhunter“ von David Fincher oder „Sense8“ von den Wachowski-Schwestern (Matrix) – beides von der Kritik gelobte Serien – wurden nach jeweils zwei Staffeln abgesetzt, weil sie nicht genug Geld einbrachten. Selbst das 200-Millionen-Dollar-Science-Fiction-Drama „Demimonde“ von J. J. Abrams wurde eingestellt, obwohl es bereits seit vier Jahren in der Entwicklung war. Wenn HBO zu dem berühmten US-amerikanischen Produzenten J. J. Abrams Nein sagt, dann können sie es zu jedem sagen. Produziert wird also wohl bald nur noch, was bezahlbar ist – und Massen anzieht.

Dabei war das Beste an Peak TV, dass es Raum für Geschichten schuf, die im traditionellen Hollywood normalerweise keinen Platz hatten – Serien über marginalisierte Personengruppen, Serien mit trans* Menschen in Hauptrollen. Wenn Hollywood jetzt auf das zurückfällt, was es als sicher erachtet, wird es einen Teil seiner Vielfalt verlieren.

Hoffnung bringt der Streik der ­Writers Guild: Wenn faire Entlohnung der Beteiligten, vor allem der Screen Writer, auf den Weg gebracht wird, kosten Serien zwar mehr, werden ­jedoch mit Sicherheit nicht mehr wie am Fließband produziert. Ein Zurück zum Kabelfernsehen wird es nicht geben, aber vielleicht ein Zurück vom ­Bingen à la All-you-can-eat-Buffet zum ­gepflegten Serienschauen hin zum Drei-Sterne-­Restaurant mit Bedienung.

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