Neue Mystery-Serie „Oderbruch“: Genre-Experiment in der ARD

Die ARD-Serie „Oderbruch“ erinnert mit düsterer Wortkargheit an Nordic-Noir-Krimis und überrascht mit einem Mystery-Narrativ.

Zwei Menschen stehen inmitten einer düsteren Landschaft

Haskel (Leonard Kunz, r.) und Sebastian (Sebastian Urzendowsky) machen einen erschütternden Fund Foto: Stefan Erhard/CBS Studios/Syrreal Dogs GmbH/ARD Degeto/dpa

Es ist ein selbst für Thriller-Verhältnisse reichlich grausamer Fund, der zu Beginn der achtteiligen Serie „Oderbruch“ (ab 19.1., ARD-Mediakthek) im Morgengrauen gemacht wird. Mitten auf einem Feld stolpern zwei Angler im Nebel über einen meterhohen Leichenberg, auf dem sich dutzende tote Menschen und tierische Kadaver stapeln.

Schnell verwandelt sich das kleine, fiktive Örtchen Krewlow nahe der polnischen Grenze in einen weltweit für Aufsehen sorgenden Tatort: Mit einem Großaufgebot und jeder Menge Container und Zelte rückt das LKA an – und tappt trotzdem erst einmal lange im Dunkeln.

„Der Boden im Oderbruch ist mit Blut getränkt“, heißt es in der ersten Folge mit Blick auf die dünn besiedelte Region an der Oder, wo nicht zuletzt auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs oder später beim verheerenden Hochwasser von 1997 viele Menschen ihre Leben verloren.

Doch die Toten auf dem längst nicht mehr bewirtschafteten Acker sind weder gefallene Soldaten noch Flutopfer. Stattdessen deutet schnell alles auf Mord hin, mit Leichen aus verschiedenen Jahrzehnten, teilweise offenkundig ihres Blutes beraubt.

Nach „Sløborn“ hat sich der umtriebige Christian Alvart – Regisseur, Produzent, Autor und sogar Kameramann in Personalunion – für seine neuste Serie einmal mehr mit Adolfo Kolmerer (Regie) und Arend Remmers (Drehbuch) zusammengetan.

Grummelige Wortkargheit

„Oderbruch“ erinnert dabei zunächst an so genannte Nordic-Noir-Krimis: brutale Taten eines mutmaßlichen Serien- oder Ritualkillers, Bilder und Stimmung sind düster und kalt, und die Verdächtigen werden in Sachen grummeliger Wortkargheit fast noch von den Er­mitt­le­r*in­nen übertroffen.

Von denen stehen hier drei im Zentrum der Geschichte: Stanislaw Zajak (Lucas Gregorowicz), der aufgrund seiner Zweisprachigkeit aus Polen dazugeholt wird, Roland Voit (Felix Kramer), der für den Fall in seinen Heimatort zurückkehrt, und seine ebenfalls längst weggezogene Jugendfreundin und Ex-Kollegin Magdalena Kring (Karoline Schuch), die bis heute nicht davon überzeugt ist, dass ihr jüngerer Bruder 1997 dem Hochwasser zum Opfer fiel.

In den ersten paar Folgen bewegt sich die Serie auf bewährtem Terrain: Das Setting solcher scheinbar von jeglichen Modernisierungsentwicklungen abgehängten Dörfer, in denen jeder jeden kennt und trotzdem alle Geheimnisse haben.

Dazu Ordnungshüter*innen, die in die Ermittlungen sehr viel persönlicher involviert sind als angebracht, und natürlich die langen Schatten der deutschen Vergangenheit. All das ist aber nur selten so stimmig und hochwertig umgesetzt wie in „Oderbruch“.

Von der Kameraarbeit bis zu Sounddesign und Score spielt die Serie visuell, atmosphärisch und technisch in der gleichen Spitzenliga wie etwa „Der Pass“. Das Ensemble, zu dem auch Jan Krauter, Volkmar Kleinert, Winfried Glatzeder sowie – besonders überzeugend – Sebastian Urzendowsky und Newcomer Julius Gause gehören, ist nicht immer überraschend besetzt, gibt sich aber kaum eine Blöße.

Anders als andere Serien

Und vor allem ist das Ganze verdammt packend! Dass Christian Alvart sich wie kaum jemand sonst im deutschen Film auf Spannung versteht, ist nichts Neues. Doch wie er und seine Mitstreiter sie hier konstant zu halten wissen, selbst wenn das Tempo mal ins Stocken gerät, die Erzählung sich zwischen all den Figuren und Zeitebenen sowie dem Subplot in einem polnischen Internat zu verzetteln droht und der Wissensvorsprung des Publikums immer größer wird, ist bemerkenswert.

Wirklich von der Konkurrenz hebt sich „Oderbruch“ allerdings mit einem Twist ab, der die Serie ab spätestens Episode 4 in Richtung eines übernatürlichen Mystery-Narrativs abbiegen lässt, ohne dass sich am – übrigens vollkommen humorfreien – Tonfall irgendetwas ändert. All die historischen und geopolitischen Kontexte treten dadurch in den Hintergrund.

Manche mag das vor den Kopf stoßen, doch dass sich eine öffentlich-rechtliche Produktion überhaupt ein solches Genre-Experiment traut, ist eine große Freude.

Und die Beteiligung der US-amerikanischen CBS-Studios, die früh das internationale Potenzial des Projekts erkannten, nur die logische Konsequenz.

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