Neuer Roman von Bov Bjerg: Gefühle in Überdosis

Heute erscheint Bov Bjergs neuer satirisch-dystopischer Roman. „Der Vorweiner“ erzählt von einer medial und emotional kontrollierten Klassengesellschaft.

Wellenbrecher aus Beton

Wellenbrecher aus Beton helfen wenig, wenn die Katastrophe schon eingetreten ist Foto: Wuling Yun/getty images

War es ein Ball, der auf der Straße lag? Oder doch ein Gürteltier? Eher unwahrscheinlich, lebt das kleine Schuppenvieh doch in anderen Regionen der Welt. Aber was ist hier schon normal? Anna bremste jedenfalls nicht oder fuhr einen Bogen, sondern „hielt auf die Kugel zu und nahm sie zwischen die Räder.“ Im Rückspiegel meinte die Fahrerin doch ein „Halbrund auf Stelzen“ zu erkennen, das „mit Trippelschritten im Unterholz“ verschwand. Da hatte das Tier noch einmal Glück gehabt. Oder was war da wirklich los?

Die Szene wird erst am Ende von Bov Bjergs neuem Roman „Der Vorweiner“ wieder aufgenommen, aber keineswegs aufgelöst. Denn die Frage, ob das Tier eine Vision ist, vielleicht Ausdruck des schlechten Gewissens oder ein Zeichen der Hoffnung, gar ein rätselhaftes MacGuffin, muss die Leserschaft selbst entscheiden.

Das Gürteltier jedenfalls führt in eine Romanwelt, die in nicht allzu ferner Zukunft zu liegen scheint: Kriege und Naturkatastrophen haben die Erde verwüstet. Jenseits von kleinen Regenzonen scheint überall die Sonne. Schnee und Eis sind verschwunden. Ein riesiger Betonblock schützt „Resteuropa“ vor gewaltigen Wassermassen.

Bjerg beschreibt in der für ihn typischen, nämlich wortkargen Weise eine exhibitionistische Verlustgesellschaft, in der die Menschen durch mediale Rundumüberwachung kontrolliert werden und jeder Kontrollverlust ein öffentliches Ereignis ist.

Warnung vor Gewalt gegen Schnecken

Verliert beispielsweise eine Mutter ihr Kind, ist das die wichtigste Meldung im Nachrichtenprogramm – die nicht nur gendergerecht vorgetragen, sondern immer auch mit akustischem Terror verbunden wird: „Seit diesem schrecklichen Erlebnis hat die Frau nicht aufgehört zu schreien. Wir wollen unseren Hö­re­r:in­nen die Schreie der Mutter nicht vorenthalten.“

Bov Bjerg: „Der Vorweiner“. Claasen Verlag, Berlin 2023, 240 Seiten, 24 Euro

Weil der 1965 im schwäbischen Heiningen geborene Schriftsteller in seiner grotesken Dystopie von ökologischen und gesellschaftlichen Verhältnissen erzählt, die völlig gestört sind, kann sich auch die Prosa nicht immer an herkömmliche Konstruktionsprinzipien halten. So beginnt der Text mit dem zweiten Kapitel.

Vor jedem Abschnitt gibt es so seltsame wie lustige Triggerhinweise zu lesen, die vor Gewalt gegen Schnecken, Bahnreisen und Dosenananas, Alkoholkonsum, aber auch vor Muckefuck warnen. Dass damit keine sexuelle Handlung gemeint ist, kann in der streckenweise schrecklich realistisch wirkenden Romanwelt nicht vorausgesetzt werden.

Falschwahre Meldungen

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Anna und ihre Tochter Berta, die aus Gründen der plakativen Allgemeingültigkeit konsequent A wie Anna und B wie Berta genannt werden. Die Mutter gehört der Vergangenheit an, hat Kunstgeschichte studiert und als Kuratorin gearbeitet.

Die Tochter hingegen ist ein Kind der neuen Zeit, schreibt falschwahre Meldungen für eine „Agentur für Spannende Nachrichten“. Über sich selbst spricht Berta in der dritten Person, und zwar völlig schambefreit: „Sie ist gut in ihrem Beruf. Sie hat einen Meister in Modern Journalism Schrägstrich Neuzeitliche Schreibe fürs Hören. Sie ist eine erfolgreiche, gern gebuchte Klickbeuterin.“

B wie Berta ist die überheblich achtsame, aber völlig mitleidslose Erzählerin in diesem Roman. Und sie ist der Star einer pervertierten Medien- und Dienstleistungsgesellschaft. Das Verhältnis zur Mutter ist so dysfunktional wie fast alle Beziehungen in diesem Roman. Vielleicht liegt es an einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit. Der Vater ist früh gestorben, angeblich Suizid. Aber möglicherweise hat auch die Mutter den Mann mit einem Bolzenschussgerät umgebracht – und das Kind hat alles beobachtet.

Blutorgie mit Schwein

Das legt jedenfalls eine Erzählsequenz vom sogenannten Gottesauge nahe, einer Art Kamera mit eingebauter künstlicher Hyperintelligenz. Ohnehin werden die Lebenswege von Mutter und Tochter auf unterschiedlichen Erzählebenen durchleuchtet.

Ob wir damit der Wahrheit näherkommen, ist fraglich, denn in diesem Roman werden frei nach Orwell aus allerlei Lügen alternative Fakten kreiert. Das betrifft beispielsweise auch die Klassenverhältnisse, die immer wieder zu Konflikten führen. „Die Niederschicht ist dauerhaft gezähmt“, behauptet Anna und übernimmt damit die Position der „Hauptstrommedien“. Die Proteststürme der Ausgebeuteten gibt es trotzdem.

Was Anna und Berta als Vertreterinnen der herrschenden Kaste wiederum verbindet, ist ihre Sucht nach Erlebnissen, die in der sterilen Welt noch echte Emotionen evozieren. Anna plant glatt, Kartoffeln mit den Händen auszugraben! Oder undichte Fenster selbst zu kitten! Doch nicht mal Feldarbeit und Handwerk befriedigen die Frau. Weil ziemlich viel verboten ist, was Spaß machen könnte, lässt Berta ihren Freund mit einer Pizza Hawaii kopulieren und Anna veranstaltet eine esoterische Blutorgie mit Schwein.

Der gnadenlose Diskurskiller

Vielleicht liefert das Verpönte den ersehnten Kick: „Das Gesetz erlaubte es nur noch, in Schlachthöfen zu schlachten, maschinell, weil die Menschen sonst verrohten. Doch die Sitten der Niederschicht genossen auf vielen Gebieten Bestandsschutz, und manche Sitte, hieß es, stehe ganz offiziell im Range eines partiellen immateriellen Weltkulturerbes.“

Bov Bjerg räumt Seite für Seite nahezu jede politische Debatte ab, die in letzter Zeit geführt wurde. Seine Prosa ist ein gnadenloser Diskurskiller. Doch wer meint, es handele sich um Lesebühnenprosa, die nur auf die nächste Pointe schielt, irrt gewaltig. Denn im Kern geht es um eine ziemlich traurige Entwicklung, die sehr präzise geschildert wird. Die Menschen haben nämlich wegen der Vorgabe, alles richtig machen zu müssen, sich längst zu vereinsamten und abgestumpften Individuen entwickelt.

Nicht einmal Trauer empfinden sie mehr. Begüterte Leute wie Anna können sich immerhin einen sogenannten „Vorweiner“ leisten, der im Sterbefall so herzergreifend flennt, auf dass der Tränenfluss der Anwesenden stimuliert werde. Bestattungen heißen hier „Zerstreuungsfeiern“, weil die Asche der Verstorbenen nicht im Beton versenkt werden darf, sondern in alle Richtungen verstreut werden muss. Die Lebenden sind vom Tod besessen, aber weil jede Zerstreuungsfeier im Fernsehen übertragen wird, interessiert sich niemand mehr für das Sterben der anderen.

Tode fachgerecht beweinen

Die Vorweiner werden in aller Regel aus migrantischen Milieus rekrutiert. Durch die Kriege und Naturkatastrophen gibt es viele Flüchtlinge, die in Auffanglagern wie Neuschwanstein oder Neulübeck interniert sind. Und leider sind wieder die Falschen gekommen. Die Vorweiner aus den untergegangenen Niederlanden oder dem politisch implodierten Österreich sind nämlich äußerst unbeliebt. Es hat sich hingegen herumgesprochen, dass die Menschen aus Westafrika eine „gewisse natürliche Melancholie mit sich“ bringen, um dann einen Tod „fachgerecht und mitreißend zu beweinen“.

„Der Vorweiner“ erzählt überzeugend, was mit der menschlichen Psyche passiert, die mit einer Überdosis permanenter Gefühlsinszenierungen malträtiert wird. Dem Roman fehlt daher sehr bewusst ein emotional-narratives Element, das uns die Figuren „näher“ bringt. Es ist kein Zufall, dass vermeintliche Nebenfiguren aus der „Niederschicht“ vielleicht etwas feinsinniger, aber bloß nicht zu tiefsinnig gezeichnet werden.

Das literarische Programm besteht in der größtmöglichen Desillusionierung in einer Großkrise der Menschheit. Das erinnert an den berühmten Barockschriftsteller Grimmelshausen, der seinen Simplicissimus Teutsch von den Verheerungen in Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg berichten ließ.

Neobarocker Blick in die Zukunft

Tatsächlich verweist nicht nur die postapokalyptische Stimmung in „Der Vorweiner“ auf das historische Vorbild, immer wieder wechseln Stil, Perspektive und Tonlage – wie es auch für Grimmelshausen typisch ist. Nur dass wir es bei Bjerg mit einer Simplicissima zu tun haben, die auch vor einem Mord nicht zurückschreckt und den – sehr zeitgemäß – als Akt der Selbstermächtigung verbrämt.

Bjerg spielt in seinen Werken immer wieder mit Versatzstücken aus der Popkultur. Im neuen Buch säuft die Jugend merkwürdige Getränke aus Einhornpulver und amüsiert sich in surrealen Clubs, als befände man sich in einer kruden Star-Wars-Nebenserie. Für die Fans des Autors gibt es zudem einige Verweise auf die Vorgängerromane zu entdecken, etwa wenn Annas Vorweiner in ein matschiges Kohl-Kartoffel-Gericht, das sich wie ein kleiner Hügel vom Teller erhebt, mit einem Löffel kleine „Serpentinen“ eindrückt.

Der Tod ist in allen Büchern Bjergs präsent. Bislang hat sich der Schriftsteller mit vergangenen Lebenskrisen und mit dem Selbstzweifel seiner Figuren befasst, die in der herausfordernden Gegenwart verortet sind. Sein neobarocker Blick in die Zukunft liest sich nun als düster-visionärer Komplementärtext, der keine Hoffnung mehr anbietet auf die Gesundung der menschlichen Seele – wenn da nicht dieses drollige Gürteltier wäre.

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