Neues Buch von Historiker Jürgen Kocka: Im Vorgefundenen Geschichte machen

Die Moderne hat Konflikte mit sich gebracht, die noch nachwirken. Jürgen Kocka beschreibt Deutschland im langen 19. Jahrhundert extrem kurzweilig.

Mann in Uniform mit großem Hut

Grundsteinlegung für das Reichstagsgebäude durch Kaiser Wilhelm I. am 9.6.1884 Foto: akg images/picture alliance

Auf den ersten Blick würde man es nicht glauben: dass sich eine Strukturgeschichte ebenso unterhaltsam und flüssig lesen lässt wie eine Ereignisgeschichte, ebenso spannend wie eine Novelle oder ein Roman.

Indes: Einer der Doyens der neueren deutschen Geschichtswissenschaft, Jürgen Kocka, dem nicht nur eine Geschichte des Kapitalismus, sondern auch höchst erhellende Arbeiten zur Geschichte der (deutschen) Arbeiterklasse zu verdanken sind, hat soeben einen eher schmalen Band zum Thema „Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland“ vorgelegt, einen Band, in dem mit Ausnahme weniger namentlicher Erwähnungen so gut wie keine menschlichen Akteure vorkommen.

Jürgen Kocka: „Der Kampf um die Moderne“. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2021, 240 Seiten, 30 Euro.

Am Rande erwähnt werden immerhin gelegentlich Napoleon, hie und da auch Wilhelm II. sowie – last, but not least – Bismarck. Wenn überhaupt Personennamen vorkommen, dann die Namen von ganz unterschiedlichen Autoren – nicht zuletzt der Name Max Webers.

Gleichwohl: Die von Kocka erzählte Strukturgeschichte macht neugierig, vor allem angesichts seiner Ankündigung im ersten Kapitel, in dem zwar die These vom „deutschen Sonderweg“ zur Disposition gestellt wird, aber gleichwohl „Eigenarten der deutschen Entwicklung“ unter Bezug auf ebendiese Sonderwegs­debatte behauptet werden.

Beispielloser zivilisatorischer Zusammenbruch

So will Kocka nicht ausblenden, „daß es in Deutschland härter und geschichtsmächtiger als anderswo, schon wenige Jahre nach dem Ende des langen 19. Jahrhunderts, durch Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust, zu einem beispiellosen zivilisatorischen Zusammenbruch kam, der auch durch langfristig wirkende Bedingungen ermöglicht worden ist.“ Man bemerke das in diesen Satz so unauffällig vorkommende „auch“.

Diese langfristigen Bedingungen sind die des „langen 19. Jahrhunderts“, das 1789 mit der Französischen Revolution begann und 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges sein Ende nahm. Die wesentlichen strukturellen Faktoren dieses langen Jahrhunderts waren Industrialisierung, Kapitalismus, Bevölkerungszunahme, Verstädterung, Binnenwanderung und Auswanderung sowie der Aufstieg des Bürgertums als Klasse.

Auf der Ebene der gesellschaftsbildenden Deutungsmuster verzeichneten – zumal in Deutschland – das Konzept der Nation und die darauf beruhende massenwirksame Ideologie des Nationalismus womöglich noch stärkere Erfolge als in ­anderen (west)europäischen Staaten, wenngleich die ­herkömmliche Unterscheidung von Herkunftsnation und Staatsbürgernation durch neuere Forschung relativiert worden ist.

Jedoch: „Insgesamt“ – so Kocka – „scheint die bürgerliche Durchdringung der Gesellschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts weniger weit fortgeschritten zu sein als in den westeuropäischen Nachbarländern.“

Die Sonderwegsthese

Damit bekräftigt er wesentliche Annahmen der derzeit außer Mode geratenen Sonderwegsthese. Entsprechend behauptet Kocka – auch unter Bezug auf Hegel und Marx – dass die Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft widersprüchlich verlief und „Klasse“ sowie „Geschlecht“ die Verallgemeinerung eines zivilgesellschaftlichen Projekts begrenzten.

Was freilich keine Besonderheit Deutschlands gewesen sein dürfte. In Deutschland jedenfalls entsprach das Bürgertum für Kocka weitgehend dem, was Karl Marx als „Bourgeoisie“ im Unterschied zur Gemeinschaft der „Citoyens“ kennzeichnete. Das führte schließlich dazu, dass der 1871 gegründete deutsche Nationalstaat minder mit den Prinzipien von Volkssouveränität und Befreiung verknüpft war – im Unterschied zu anderen europäischen Staaten, die sich „auf erfolgreiche Akte des Aufstandes gegen traditionelle Obrigkeit oder fremde Oberherrschaft […] zurückführen konnten“.

Mit Blick auf die politischen Institutionen unterschied sich Deutschland damit von anderen west-, nord- und südeuropäischen Ländern durch eine massive Blockade der Parlamentarisierung – ohne dass damit das deutsche Bürgertum als solches schwächer als in anderen Ländern gewesen wäre.

Damit rückt für Kocka das Bürgertum und seine Geschichte ins Zentrum der Betrachtung – vor allem der strukturellen Erklärung des Zivilisationsbruches – und dauerte es von 1914 an keine zwei Jahrzehnte, „bis sich diese Zivilgesellschaft in einem ­Prozeß der inneren und nach außen gerichteten Barbarisierung befand, gegen den sie wenig Gegenwehr aufzubieten wußte: ein Extremfall sondergleichen im europäischen Rahmen.“

Grenzen der Strukturgeschichte

Zu dieser Behauptung hätte man nun gerne mehr gelesen als lediglich Fußnotenverweise, indes: Womöglich finden an genau diesem Punkt struktur- und gesellschaftsgeschichtliche Ansätze ihre Grenze. Spätestens hier wäre dann auf eine mindestens gruppen-, wenn nicht personenbezogene Ereignisgeschichte zurückzukommen.

Auf jeden Fall lassen sich an Kockas bestens lesbarer Studie Vor- und Nachteile strukturbezogener Historiografie luzide nachvollziehen: Am Ende kann eine strukturgeschichtliche Perspektive denn doch nicht mehr liefern als eine Entfaltung der notwendigen Bedingungen von Geschichte, so schon Karl Marx: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“.

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