Neues Kamerun-Stück an Münchner Kammerspielen: Echte deutsche Mehrarbeit

In neuen Stücken untersuchen Georg Kamerun und Peter Kastenmüller an den Münchner Kammerspielen illegale Migration als Folgeerscheinung des Arbeitsmarktes.

Die Schauspieler skandieren: "Keiner ist besser als ich, ihr mögt es rau, wir erschüttern die Nation immer noch." Bild: münchner kammerspiele/arno declair

Kein ungewöhnlicher Traum, so ein Haus. Aber dieses hier ist ganz aus Pappe. Fenster ohne Glas, feuchter Boden. Darüber baumelt eine Glühlampe wie eine Abrissbirne. Tags den schweren Kopf durch fremde Straßen tragen, darunter den immer gleichen Anzug, nachts zwischen den Kartonwänden schlafen, am besten auf einer Baustelle. Denn nur "da sein, wo niemand sein will, das ist Ruhe".

"Illegal" hat Polle Willbert alias Björn Bickert über sein Stück geschrieben, das unter der Regie von Peter Kastenmüller an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. Über 50.000 "Ungesetzliche" sollen allein in München leben, also weit mehr als Einwohner in Biarritz, Dubrovnik oder Passau. Jede Fahrkartenkontrolle ist für sie ein Risiko. Arztbesuche sind nicht drin. Selbst eine Abtreibung ist einfacher als eine "illegale" Geburt.

Monatelang hat sich der Autor in der Flüchtlingsberatungsstelle "Café 104" solche Episoden erzählen lassen, bis er nun rund sechzig Stellvertreter der Illegalen unbemerkt unter das Publikum im Foyer schleust. Plötzlich wendet sich jedem Zuschauer ein Nebenmann zu und raunt ihm ins Ohr: "Wir kennen alle Regeln, wir sind die Chefs, wir schicken das Geld, wir sind neue Menschen." Die vielen Stimmen der Laienschauspieler verdichten sich zu einer minutenlangen Kakofonie. Einzelne Darsteller des Ensembles erklären in einem vorgeblich arroganten Tonfall, worum es hier geht: Die Zugewanderten sind bereit, sich allen Umständen anzupassen. Sie tragen Verantwortung, indem sie ihre Familien aus der Ferne unterstützen. Sie überwinden die eigenen Gefühle - Heimweh, Trauer, Demütigung -, um ein Maximum an Nutzen für sich und ihre Angehörigen zu erzielen. Sie sind nicht zu beneiden - aber erst recht nicht zu bemitleiden.

Ein Déjà-vu. Das hämmernde Stakkato erinnert an den Anfang von "Down Understanding" eine Woche zuvor. Zu Beginn dieses Projekts, das der ehemalige Frontmann der Goldenen Zitronen Schorsch Kamerun auf die Bühne der Kammerspiele gebracht hat, wird ebenfalls skandiert. "Keiner ist besser als ich, ihr mögt es rau, wir erschüttern die Nation immer noch." Übersetzt kaum noch kenntlich, sind dies allerdings nur Songtexte von Scooter. Die leeren Phrasen der auch im Ausland übererfolgreichen deutschen Band werden eine gute Tagesschaudauer lang in den Saal gezischt. Es funktioniert, die Assoziation ist da: Das steckt also auch hinter unserer Leitkultur?

Hinter trüben Scheiben werden derweil Koffer gefilzt, Plastiktüten durchsucht, Test bestanden oder auch nicht, und alles von Kameras überwacht. Und das also ist der Preis, um in diesem Land zu leben? Ein Wiesn-Besucher, äußerlich überassimiliert bis hin zum schlampigen Karohemd und zur Bayernfahne, stellt sich unvorsichtig als "Wolpertinger" vor, als bayerisches Fabelwesen, dessen Körperteile von verschiedenen Tieren stammen. Das wird ihm schlecht bekommen, da lässt man sich aber gar nichts vormachen, dafür ist man zu ausgebufft: Sofort wird ihm der Prozess gemacht. Halt, nein: Erst noch von deutschen Musterbeamten die Nase blutig geschlagen. Ordnung muss sein.

Nicht jeder ist von den jüngsten Experimenten angetan, das Münchner Premierenpublikum ist sich uneins. Unter einen eher freundlichen als begeisterten Applaus mischen sich die Pfiffe und Buhrufe einiger enttäuschter Stammabonnenten. Dennoch wollen Intendant Frank Baumbauer und Chefdramaturgin Julia Lochte die Bemühung um eine "neue Formensprache" (Lochte) sogar noch ausweiten. Die Suche nach neuen Antworten auf gesellschaftliche Fragen soll in der nächsten Spielzeit vertieft werden, wenn das Haus ab Oktober für drei Monate ganz an Schorsch Kamerun übergeben wird.

Denn wenn sie schon nicht Politik machen können, so bedienen sich die Kammerspiele immerhin selbstbewusst einer Sprache, die Macher und Denker gleichermaßen verstehen. In "Illegal" wie in "Down understandig" wird ein klar politisches Problem auf die Bühne gehoben und künstlerisch bearbeitet; die Grenze zwischen Realität und theatralischer Parallelwelt wird aber durch die geschickte Umsetzung von sachlichen Protokollen mit äußerst dramatischen Mitteln gekonnt verwischt.

Und so gelingt es beiden Stücken, von Polle Wilbert und von George Kamerun, Zuwanderer nicht als Flüchtlinge, sondern als Arbeitsmigranten und Glückssuchende zu porträtieren. Ausgerechnet unter dem Etikett "illegale Einwanderung" rücken beide Inszenierungen Kardinaltugenden einer modernen, globalisierten Arbeitswelt in einen ungewohnten Sinnzusammenhang. Sie zeigen den flexiblen, allzeit mobilen Arbeitnehmer, nahezu perfekt an die Anforderungen einer Gesellschaft und eines Marktes angepasst, die Regelkonformität zur wünschenswerten Vorgabe machen, dazu soziale Unauffälligkeit und einen Arbeitswillen, der nicht an Bedingungen geknüpft ist. Kurz, sie weisen auf ein Zukunftsmodell hin, das sich selbst unter widrigsten Umständen halten kann: den "Illegalen", der dem Sesshaften hier deutlich überlegen ist - und zwar nach dessen eigenen ehrgeizigen Maßgaben.

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