Notizen aus dem Krieg: Überall rote Blumen

In der ukrainischen Region Donezk erinnern rote Blumen an getötete Zivilist:innen. Kriegsverbrechen waren schon früher russische Strategie.

Ein Strauss roter Rosen auf einer Straße

Auf einem Hinterhof erinnert ein Strauß roter Rosen an ein ziviles Opfer Foto: Georgy Zeykov

Der 35-jährige Georgy Zeykov engagiert sich seit Kriegsbeginn bei der Planung und Durchführung von Evakuierungen in und um Charkiw, seiner Heimatstadt. Er arbeitet als Freiwilliger für die humanitäre Organisation Rescue Now UA. Georgy war vor dem Krieg Unternehmer, designte Mode und Accessoires – er beschreibt sich selbst als „Modefreak“, dem seine äußere Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig war.

Das Bett, auf dem ich liege, ist so kurz, dass ich meine Beine nicht ausstrecken kann. Ich rieche nach Schweiß, besonders dort, wo mein Körper, mein T-Shirt und meine Weste übereinanderliegen. Immerhin habe ich es geschafft, mein Gesicht zu waschen und mich mit Feuchttüchern abzuwischen, bevor ich ins Bett ging. Ich rieche mich trotzdem selbst.

Ich befinde mich in Kramatorsk, dreißig Kilometer von der Frontlinie entfernt und fünf Meter unter der Erde. Dort blicke ich auf die parallelen Linien der Bunkerdecke. Sie überschneiden sich nicht. Es ist eine perfekte Adaption von Eu­klids Kriegsaxiom. Mit dem könnten Kriegskinder in der Schule ein paar Grundlagen der Geometrie lernen.

Allein dieser Begriff: Kriegskinder. Was für eine schreckliche Bedeutung. Der Krieg in der Ukraine führte zu einer der größten Vertreibungen von Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein 1.800.000 Kinder verließen das Land. Viele von ihnen brachten Gepäck mit, das man nicht sofort sehen kann – die Schrecken des Krieges, Ereignisse, die nicht aus der Erinnerung gelöscht werden können. Das wird immense Folgen für und Auswirkungen auf künftige Generationen haben.

Keine sicheren Orte

Laut offiziellen Angaben leben heute noch 350.0000 Menschen im Donbass – in Wirklichkeit sind es 492.000, darunter 52.000 Kinder. Es ist technisch fast unmöglich, den Donbass durch die Heizperiode zu bringen. Das habe ich heute erfahren. Die ganzen kritischen Schäden an der Infrastruktur machen es undenkbar, während der Winterperiode und vor Kriegsende komfortable Lebensbedingungen für die Menschen zu schaffen.

„Russland ist schlussendlich eine autoritäre Diktatur, deren Angriffskriege schon immer darauf ausgelegt waren, so viele Zi­vi­lis­t:in­nen wie möglich zu töten“

Die Regierung tut ihr Bestes, um das in anderen Gebieten abzufedern und aushaltbare Bedingungen für all die Geflüchteten zu schaffen, während meine Stiftung und ich die Menschen an sichere Orte evakuieren. Vielleicht sollte ich mich korrigieren: relativ sichere Orte. Es gibt keinen Ort in der Ukraine, der völlig sicher ist. Egal, wo du dich befindest. Du kannst von einer Rakete getötet werden, selbst wenn dein Haus mitten auf einem Feld steht und rein gar nichts in der Nähe ist.

Anfangs habe ich nicht verstanden, weshalb die ganzen zivilen Objekte so brutal zerstört werden. Es kam mir unlogisch und sinnlos vor. Und warum so viele zivile Opfer? Erst als ich im Donbass ankam, fand ich die Antwort.

Was ich in Charkiw gesehen habe, habe ich überall in der Region Donezk gesehen. Zerstörte Schulen, zivile Häuser, Raketenkrater in Höfen, in denen es keine einzige militärische Einrichtung gibt. Und Blumen. Rote Blumen – es sind verschiedene Sorten, aber alle sind rot.

Sie stehen an den Orten, wo Menschen gestorben sind: In der Nähe des Eingangs eines mehrstöckigen Gebäudes rauchte ein Mann eine Zigarette, als eine Granate einschlug. Ihm blieb keine Zeit zu handeln. Nun liegen rote Nelken auf einer Bank ganz in der Nähe.

In einem anderen Hof ein ähnliches Szenario: rote Rosen, umsäumt mit schwarzer Schleife, stehen in einer halb abgeschnittenen Fünf-Liter-Plastikflasche direkt auf dem Bürgersteig. Die Fahrerin hatte nicht einmal Zeit, sich aus dem Auto zu retten, geschweige denn auszusteigen. Die Rosen stehen nun an der Stelle, wo sie das Auto geparkt hatte. Dann schlug die Rakete ein – nicht weit von ihr entfernt, auf dem Spielplatz. Die junge Frau starb noch auf dem Fahrersitz an ihren Schrapnellwunden.

Ein Mann steht auf einer Straße

Warum so viele Opfer? Das hat sich Georgy Zeykov lange gefragt Foto: Georgy Zeykov

Für Russland ist das ein typischer Krieg. Das wird mit einem Blick auf die vergangenen Kriege dieses Staates sichtbar. Man könnte sagen, dass es sich um einen Stil der Kriegsführung handelt. Eine Art Taktik oder ein Konzept. Schlussendlich ist Russland eine autoritäre Diktatur, deren Angriffskriege schon immer darauf ausgelegt waren, so viele Zi­vi­lis­t:in­nen wie möglich zu töten. Nur damit die militärische und politische Führung unter dem Druck der überlebenden Zivilbevölkerung einer Kapitulation zu nachteiligen Bedingungen zustimmt.

Die ganze Gewalt, die ich in Charkiw und im Donbass sehe, die ganze Gewalt, die ich in den Nachrichten in der ganzen Ukraine gesehen habe, ist dem kriminellen Einsatz von großkalibriger Munition und Raketen geschuldet. Munition und Raketen, die gezielt zivile Wohneinrichtungen zerstören. So sollen Panik, Schock und Hysterie verbreitet werden.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es soll ein Zustand geschaffen werden, in dem der Widerstandswille der Bevölkerung auf ein Minimum zusammenschrumpft. Das ist Strategie und Taktik – Terror und Gewalt gegen die unbewaffneten Bür­ge­r:in­nen der Ukraine, wenn man ihre Armee nicht besiegen kann. Schaut auf den Krieg in Tschetschenien, in Syrien und jetzt schaut auf die Ukraine. Das Herzstück der russischen Kriegstaktik sind Kriegsverbrechen.

Aus dem Englischen von Frederike Grund

Seit Beginn des Krieges ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in und um Charkiw tätig. Sie ist auf Spendengelder angewiesen.

An dieser Stelle veröffentlichen wir regelmäßig Berichte aus dem Alltag in der Ukraine. Die Texte geben die subjektive Sicht der Au­to­r:in­nen auf die Ereignisse ungefiltert wieder.

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