Notizen aus dem Krieg: Die Erde zu meinen Füßen

Während er auf seinen Evakuierungseinsatz wartet, beobachtet Georgy Zeykov ein brennendes Feld. Er fragt sich: Was wurde aus dem Mann, dem es gehörte?

Ein uniformierter Soldat posiert stoisch vor einem verdunkelten Hintergrund

Georgy Zeykov bei seinem Evakuierungseinsatz am Rande der Stadt Soledar Foto: Tania Synia

Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger bei der humanitären Organisation Rescue Now UA und hilft bei Evakuierungen in und um Charkiw, seine Heimatstadt. Georgy war vor dem Krieg Unternehmer, design­te Kleider und Accessoires. Er beschreibt sich selbst als „Modefreak“, dem seine äußere Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig war.

Ein Feld steht in Flammen, zweihundert Meter von mir entfernt, die Granate hat es gerade erst getroffen. Kleine Schnipsel schwarzer Asche fallen auf das Dach eines Autos. Ein paar Erdbrocken sind bis zu mir geflogen, sie liegen nun an den Spitzen meiner Turnschuhe.

Ich halte mich während meines Evakuierungseinsatzes am Rande der Stadt Soledar auf, nahe dem Fluss Styx. Dort sitze ich auf dem Boden eines Busses, die Türen sind offen, meine Füße stehen auf dem Asphalt der Straße. Ich warte.

Der Bus ist noch leer, der Fluss in Sichtweite. Wir warten auf die Rückkehr der Pkw-Fahrer. Um zu uns zu gelangen, müssen sie mit unseren Booten den Fluss überqueren. Genau wie die Menschen, die sie aus dem Kriegsgebiet auf direktem Weg zu uns bringen. Aus der Welt der Gefahr hinein in die Welt der Lebenden sozusagen. Sobald die Fahrer ankommen, werden die Menschen in unsere Busse umsteigen.

Die russischen Stellungen nur fünf Kilometer entfernt

Anschließend rotiert die Besatzung und wir Wartenden sind mit der nächsten Evakuierung an der Reihe. Meine Aufmerksamkeit ist auf das brennende Feld gerichtet. Das Getreide ist bereits geerntet, aber die abgemähten Halme stecken noch in der Erde. Sie sind eingehüllt in dichten Rauch. Wir sind in einem Grenzgebiet, hier gibt es keine Feuerwehrleute.

Ich stelle mir das brennende Feld als einen Ort vor, wo keine Granate eingeschlagen ist – als ein Feld in Friedenszeiten. Am Rande der brennenden Fläche befindet sich etwas, das aus der Ferne wie ein Heuberg aussieht. Vielleicht ist es Weizen. Jemand muss das Getreide ausgesät haben, als die Kämpfe bereits im Gang waren. Wie mutig, ein Feld in Kriegszeiten zu bestellen, besonders so nah an der Front.

Die russischen Stellungen sind etwa fünf Kilometer von der Stadt entfernt. Gestern versuchten sie, die Grenzen zu durchzubrechen, wurden aber zurückgedrängt. Ich frage mich, ob der Besitzer des Feldes zur selben Zeit seinen Weizen mähte. War dem Mann klar, wie gefährlich die Situation nur fünf Kilometer von ihm entfernt war? Ich wüsste gerne, wo er sich nun aufhält. Ist er gegangen, nachdem er das Feld abgeerntet hat? Oder ist er irgendwo in einem Keller und wartet darauf, evakuiert zu werden?

Das Dach bricht ein

Die Halme des Feldes brennen noch immer. Noch immer sitze ich auf dem Boden des Busses, meine Füße auf dem Asphalt. Meine Gedanken wandern zurück in die Vergangenheit. Über allen Erinnerungen schwebt der Mann, der das Weizenfeld mähte.

Da gab es den Tag, an dem der Motor unseres Autos während des Artilleriebeschusses in Soledar ­ausfiel: Der Fahrer Sergej und ich mussten den Wagen anschieben, mit dem wir eigentlich die Menschen im Ort evakuieren wollten. Zuvor war eine Granate auf die Veranda eines Hauses gefallen, aus dessen Keller wir nur fünf Minuten früher drei Personen gerettet hatten, einer von ihnen verletzt. In einem der Stadtviertel wurde geschossen.

In meinen Erinnerungen kann ich das Gefecht noch deutlich hören. Ich stolpere und schiebe das Auto ein letztes Mal an. Sergej stemmt sein ganzes Körpergewicht gegen den Wagen. Ich be­obachte, wie sich das Fahrzeug von mir wegbewegt, bis die Kraft auch Sergej verlässt, das Auto langsamer wird und dann stehen bleibt. Die nächste Granate landet auf dem Dach eines ­dreistöckigen Hauses irgendwo hinter mir.

Kurz reißt mich der Mann, der das Feld mähte, aus meiner Erinnerung: Ob er beim Ernten daran dachte, dass jede Drehung des Lenkrads seine letzte Bewegung hätte sein können? Meine Gedanken springen wieder zum Dach des dreistöckigen Hauses zurück. Ein Teil des Dachs beginnt zu brennen, ein anderer bricht ins oberste Stockwerk ein. Nur der Dachvorsprung bleibt wie durch ein Wunder stabil.

Am selben Tag mussten wir noch eine ältere Frau und einen Mann evakuieren, bis wir schließlich selbst von einer verbündeten Fremdenlegion in Sicherheit gebracht wurden. Der Beschuss und die Rauchentwicklung waren zu intensiv.

Die Zeit zerfließt

In meinem Kopf starren mich die Frau und der Mann immer noch an, beide saßen mir an diesem Tag gegenüber – auf einer improvisierten Bank aus Brettern und Geröll. Die Kriegsfotografin Tania Synia, der Fahrer Sergej und ich tranken schweigend Wasser. Zu viel Rauch trocknet die Kehle aus.

Wir alle befanden uns im Keller eines zerstörten mehrstöckigen Gebäudes, ich habe das Gewusel um uns herum noch deutlich vor Augen. Dutzende Soldaten der Fremdenlegion gingen an uns vorbei.

Sie trugen rechteckige Abzeichen, eine Hälfte mit der ukrainischen, die andere mit der georgischen Flagge bestickt. Sie wuschen sich das Gesicht, sprachen über ihren verwundeten Kameraden und waren dabei immer in Bewegung. Ein Warten in Aktion. Draußen fielen ununterbrochen Granaten. Ich weiß noch, dass ich im Keller bei jeder Explosion eine Druckwelle an meinen Beinen spürte.

Und wieder drängt sich der Mann, der das Feld mähte, zwischen meine Erinnerungen und mich. Ich werde ihn und das Feld einfach nicht los. Sie sind ständig in meinem Kopf. Vielleicht hat der Mann auch gewartet. Auf das Ende dieses Albtraums. Aber konnte er warten, ohne zu handeln?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Soldaten im Keller konnten es nicht. Auch ich warte. Ich warte auf die Stille, auf das Ende des Angriffs. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es Stille gar nicht gibt – dass es schon immer so laut war.

Die Zeit zerfließt für mich, Momente werden zu Szenen wie dieser: Der schwarze Audi-Kombi unserer Evakuierungstruppe zieht das liegengebliebene Auto an einem Abschleppseil durch die Vorstadt von Soledar – vor uns der Sonnenuntergang, um uns herum die Zerstörung.

Der Anblick schockiert mich nicht mehr. Der Beschuss ist erst seit 20 Minuten vorbei und die Russen könnten jeden Moment wieder loslegen. Tatsächlich tun sie das dann auch, in dem Moment, als wir die Stadt verlassen. Die ersehnte Stille setzt erst drei Stunden später ein.

Meine Gedanken und ich kehren in den Moment zurück. Alles, was ich vom Feld sehen kann, ist mittlerweile vollständig verbrannt. Ich sitze noch immer auf dem Boden des Busses, warte auf die Fahrer und starre auf die verbrannten Erdbrocken zu meinen Füßen. Unser Bus ist noch immer leer.

Wieder kreisen meine Gedanken um den Mann, der das Feld mähte. Er ist wahrscheinlich weg, er ist definitiv weg. Er ist gegangen, um ein anderes Feld abzuernten.

Aus dem Englischen von Frederike Grund

Seit Beginn des Krieges ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in und um Charkiw tätig. 150 Freiwillige arbeiten mit. Die Organisation ist auf Spendengelder angewiesen.

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