„Orpheus in der Unterwelt“ in Bremen: Warmer Schaumwein statt Champagner

Labberwarm und ohne Zunder: Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ bleibt drei Stunden lang ohne klare Idee, ohne Sex und ohne Tempo.

Menschen liegen auf Sofa, ein Mann in weißem Anzug steht und hält ein Mikrophon in der Hand

Der Schwung fehlt, aber zwei Glücksperlen gibt es doch noch Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Traurig stimmt die Performance des Orchesters bei dieser Premiere von Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“. Wer noch die febrile Rauschhaftigkeit erinnert, die sich unter Yoel Gamzous Dirigat bei Operetten zuverlässig einstellte, kann sich über die Leistung der Bremer Philharmoniker jetzt nur wundern: So bräsig und zahnlos, so brav, wie sie es unter William Kelley spielen, hat man dieses Schlüsselwerk des 19. Jahrhunderts noch nie gehört. Aber auch nie hören wollen. Da fehlen aller Schwung und jedes Feuer. Da fehlt alles, was Operette zur queersten und wollüstigsten Kunstform überhaupt gemacht und ihr seit 15 Jahren eine Renaissance beschert hat.

Dieser rabiate Qualitätsverlust hat mehr als mit dem Dirigat aber damit zu tun, dass Frank Hilbrichs Regie keinen Zunder gibt: Das Stück von Ludvovic Halévy und Hector Crémieux ist ja eigentlich ein Riesenspaß, den die Musik potenziert. Es erzählt eine Travestie des Orpheus-Mythos. Statt durch übergroße Liebe sind der legendäre Sänger und seine Frau Eruydike – gespielt von der extrem guten Sopranistin Diana Schnürpel – durch die Zwänge der Ehe aneinander gekettet. Sie flieht mit ihrem Lover, dem Gott der Unterwelt, in dessen Reich.

Dass Orpheus, der lieber mit einer Nymphe rummachen würde, sie von dort auf Geheiß des Göttervaters zurückzuholen versucht, ist allein der Personifikation der öffentlichen Meinung geschuldet. Die, das ist die erste der zwei guten Ideen der Produktion, wird von der famosen Ulrike Mayer weißmaskiert in einem von Regine Standfuss designten anthrazitfarbenen Zeltststoff-Overall verkörpert. Der ist aufblasbar und verwandelt die Sängerin in eine größenflexible, wabernde Stehauffigur. Mal zwergig, mal riesig, mal prall und mal schlapp trollt sie über die Bühne, ohne die gesangliche Perfektion einzubüßen. Brava!

Den zweiten guten Moment erlebt die Inszenierung, als der Höllen-Galopp zwar wohl ertönt, jedoch nur über Kopfhörer und nur für die Mitglieder des Ensembles: Die lautlose Individualisten-Party in der Unterwelt folgt dem Rhythmus dieses Mega-Smashhits, den als French Cancan wirklich alle Welt kennt. Großartig lesbar hat Sascha Pieper Profi-Tänzer*innen mit den unterschiedlich bewegungsvirtuosen Chorleute und So­lis­t*in­nen choreografisch zusammen gebracht. Da stört noch nicht mal die recht immobile Lilo Wanders, die, aus unerfindlichen Gründen als Juno gecastet, im Laufe des Abends Textelemente aufsagt.

„Orpheus in der Unterwelt“, wieder am Di, 31. 10., 18 Uhr; Sa, 11.11., 19.30 Uhr; Do, 23. 11., 18 Uhr. Weitere Termine bis Februar 2024

Zwei Glücksbläschen perlen also binnen drei Stunden aus diesem labberwarmen, vom Publikum gleichwohl freudig konsumierten Schaumwein, den Hilbrich kredenzt: Ohne klare Idee, ohne Sex und ohne Tempo, das dort, wo es gut gemacht ist, wie zuletzt bei Barrie Kosky in Berlin, jede Sinnfrage wegfegen kann, wie ein Herbststurm. In Bremen jedoch: Flaute.

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