Paul Austers neuer Roman „Baumgartner“: Nach Halt suchen, ins Leere greifen

Solange es wehtut, ist die Gestorbene noch da: Paul Austers neuer Roman „Baumgartner“ ist ein Buch über die Trauer.

Paul Auster lehnt seinen Arm an ein Fenster

Paul Auster zeichnet seinen weltfremden Protagonisten Baumgartner mit gutmütigem Spott Foto: Edu Bayer

Die Größe der Emotionen, um die es in diesem Roman geht, steht umgekehrt proportional zu den poetischen Mitteln, mit denen sie zum Ausdruck gebracht werden. Schlichte Aussagesätze müssen genügen, um das maximale Unglück heraufzubeschwören. „Sie fehlt mir, das ist alles“, heißt es an einer Stelle beinahe lapidar, das Elend eher feststellend als beklagend. Und an einer anderen: „Baumgartner hat noch Gefühle, er liebt noch, er begehrt noch, er will noch leben, aber sein Innerstes ist tot.“

Der tragische, der trauernde Held des neuen Romans von Paul Auster hat sich an den Schmerz gewöhnt, und auch an die Hilflosigkeit, die sein Leben nach dem Unfalltod seiner Frau Anna vor zehn Jahren bestimmen. Dem 70-jährigen Philosophieprofessor fehlt das Zentrum, das ihm die längste Zeit Stabilität gab. Nunmehr kommt er immer öfter aus dem Gleichgewicht, sucht nach Halt und greift ins Leere.

Phantomschmerz ist das Analogon

Das ist in diesem Buch sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich gemeint. Auf den ersten Seiten tigert Baumgartner von einer Grübelei zur nächsten, stürzt die Kellertreppe hinunter und setzt beinahe seine Küche in Brand. Wie kann ein derart verlorener Mensch einigermaßen den Kopf über Wasser halten? Baumgartner wählt, seiner Profession entsprechend, den intellektuellen Rettungsweg. Er bringt Annas Gedichte aus dem Nachlass heraus, gibt Seminare, verfasst ein Buch nach dem anderen. Das aktuelle behandelt den Phantomschmerz, also jene medizinische Paradoxie, dass Menschen Schmerzen oder Juckreiz an Körperteilen empfinden können, die ihnen längst amputiert wurden.

Paul Auster: „Baumgartner“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, Hamburg 2023, 208 Seiten, 22 Euro.

„Es ist das Sinnbild, nach dem Baumgartner seit Annas plötzlichem, unerwartetem Tod vor zehn Jahren ständig gesucht hat, das überzeugendste und stärkste Analogon zur Verdeutlichung dessen, was los ist mit ihm.“ Der Trauernde als Amputierter also und der Schmerz als ein Medium zur Kontaktaufnahme mit der Verlorenen. Solange es weh tut, ist sie noch da.

Subtrahiert von unendlich vielen Nullen

Doch dann meldet sich Anna über einen anderen Kanal zu Wort. Sie ruft an. Eines Nachts klingelt das eigentlich längst abgemeldete Telefon in ihrem alten Arbeitszimmer und als Baumgartner rangeht, grüßt ihn seine Frau aus dem Jenseits. Sie beschreibt es als eine Art Limbus, als einen schwarzen Raum, einen Nicht-Ort, als „blanke Null, subtrahiert von unendlich vielen Nullen“. Das Leben nach dem Tod: ein körperloses Nichtexistieren in einem Raum, den es gibt, den jedoch keinerlei Eigenschaft auszeichnet.

Wer mag, darf diese Spekulation direkt dem Autor zuordnen, der im Frühjahr über seine Frau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, ausrichten ließ, er habe Krebs. Es sei jedoch davor gewarnt, den ganzen Roman als persönliches Statements ­Austers zu lesen. Zwar finden sich, wie bei ihm üblich, biografische Ähnlichkeiten zur Hauptfigur, aber Baumgartner ist nicht Auster. Eher noch ist er ein Repräsentant seiner Generation und seines Milieus, ein Bildungsaufsteiger, ein US-amerikanischer Gewinner.

Schnell verschuldet, früh gestorben

Das unterscheidet ihn von seinen Eltern und Großeltern, deren Biografien er in Exkursen nachgeht. Jung verheiratet, schnell verschuldet, früh gestorben waren sie in dieser Sippe. Er hingegen hat es zu Ansehen und einem kleinen Vermögen gebracht. Existenzielle Sorgen sind für ihn solche des Gefühlslebens. „Bemerkenswert“, staunt er mit Blick auf das schöne Wetter im eigenen Garten. „Die Erde brennt, die Welt steht in Flammen, aber fürs Erste gibt es noch Tage wie diesen.“ Es ist die einzige Stelle in diesem Roman, die eine Notlage andeutet, so zaghaft, dass nicht einmal klar ist, ob sie politischer, ökologischer oder ökonomischer Natur ist.

Baumgartner berührt sie ohnehin nicht besonders. Er hat zwar Sympathien für junge Menschen, die diese brennende Welt werden löschen müssen, aber nicht um ihretwillen. In allen jüngeren Frauen erkennt er Züge seiner Anna wieder, ganz gleich, ob es die Paketbotin ist oder eine Doktorandin. Mit anderen Worten: Baumgartner ist einer, der in der Vergangenheit und in seinen Büchern lebt und der für die Realität, wie sie sich anderen Menschen darstellt, kein großes Interesse aufbringt.

Er muss nach Hilfe fragen

Und so scheitert natürlich auch sein Versuch, noch einmal neu anzufangen. Er rafft sich auf, bahnt eine Beziehung an, will heiraten und ein neues Leben beginnen. Warum es nicht klappt, bleibt weitgehend im Dunkeln. Angeblich spielt der Altersunterschied zu seiner neuen Partnerin eine Rolle, aber kaum aus den Gründen, die Baumgartner vermutet. Nein, es geht wohl nicht darum, dass er in absehbarer Zeit pflegebedürftig sein könnte, sondern darum, dass es schwerfällt, mit einem Mann zusammenzuleben, der sich so weit entfernt von der Gegenwart eingerichtet hat.

Auster weist mit gutmütigem Spott auf diese Verfasstheit seines Helden hin. Er lässt ihn eine ganze Kulturgeschichte über Automobile schreiben und nach einem Unfall zugeben, dass er keine Ahnung habe, wie so ein Motor funktioniert. Was nun? Er muss nach Hilfe fragen, Fremde ansprechen, Kontakt zur Welt aufnehmen. Man sieht ihm gerne nach, wie er aufbricht, an eine unbekannte Tür klopft – und hofft auf ein Happy End in der Wirklichkeit.

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