Politische Partizipation in Deutschland: Nur Tamtam um die Bürgerräte?

Ob die Empfehlungen der Bür­ge­r:in­nen tatsächlich umgesetzt wurden, wollte die Linke von der Regierung wissen. Deren Antwort bleibt luftig.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (links) zusammen mit Christine von Blanckenburg vom Nexus Institut bei der Bürgerlotterie im Bundestag

Mitte Juli loste Bundestagspräsidentin Bas die Mitglieder der Bürgerrates „Ernährung im Wandel“ aus Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

BERLIN taz | Manchen gelten sie als der letzte Schrei politischer Partizipation: Bürgerräte. Sie seien „ein Format, das Teilhabe ermöglicht“, schwärmte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags im Oktober 2021. In ihrem Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP vereinbart, sie als „neue Formen des Bürgerdialogs“ durch den Bundestag einsetzen und organisieren zu lassen. Es gehe darum, die Entscheidungsfindung zu verbessern. Doch dienen sie tatsächlich dazu?

Daran scheinen Zweifel angebracht, wie die Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage der Linksfraktion zeigt, die der taz vorliegt. Denn auch wenn der erste vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ erst Ende September seine Arbeit aufnehmen soll, gibt es bereits Vorläufer – also auch schon Ergebnisse.

Von 2019 an startete der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) mehrere entsprechende Modellprojekte.

Nun wollte die Linksfraktion wissen, in welcher Form und in jeweils welchem Umfang deren Ergebnisse und Handlungsempfehlungen aufgegriffen und in konkrete politische Maßnahmen und Gesetzgebungsprozesse überführt worden sind – und zwar „jeweils nach Bürgerrat, politischen Maßnahmen und Gesetzesinitiativen“ aufgelistet. Eine sehr spannende Frage, doch die Antwort der Regierung darauf bleibt ausweichend und schwammig. Aus gutem Grund.

Monate der Diskussion

Organisiert vom Verein „Mehr Demokratie“ gab es seit 2019 Bürgerräte unter anderem zu den Themen „Bildung und Lernen“, „Künstliche Intelligenz“, „Demokratie“ unter Vorsitz des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein (CSU) und „Deutschlands Rolle in der Welt“, geleitet von der einstigen DDR-Bürgerrechtlerin und Grünenpolitikerin Marianne Birthler.

Der Bürgerrat zum Thema „Klima“ stand unter der Schirmherrschaft des Ex-Bundespräsidenten Horst Köhler und fand unter den gleichen Bedingungen statt, wie sie auch für den im Juli eingesetzten Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ gelten. So wurden auch hierfür in einem gestaffelten Losverfahren letztlich 160 Teil­neh­me­r:in­nen bestimmt, die über mehrere Monate miteinander diskutierten. Im Herbst 2021 präsentierten sie ihr knapp 100 Seiten starkes „Bürgergutachten“.

Eine Auskunft darüber, ob etwas von den dortigen Empfehlungen umgesetzt worden ist oder werden soll, bleibt die Ampelregierung in ihrer Antwort auf die Linken-Frage schuldig. Stattdessen antwortete Ekin Deligöz, grüne Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, nur allgemein wie nichtssagend: „In Gesetzesvorhaben der Bundesregierung fließt stets die Gesamtheit aller verfügbaren Informationen und Kenntnisse ein. Dazu gehören u. a. auch Erkenntnisse der Bürgerräte. Der Bundesregierung liegen vor diesem Hintergrund keine spezifischen Informationen oder spezielle Auswertungen im Sinne der Fragestellung vor.“

Linksfraktion enttäuscht von der Regierungsantwort

Die Linksfraktion zeigt sich enttäuscht über die spärliche Antwort. „Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung nicht ein konkretes Ergebnis eines Bürgerrats benennen kann, das in die Gesetzgebung eingeflossen ist“, sagte der parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte der taz. Das spreche „nicht dafür, dass man das Instrument und die sich daran beteiligende Bevölkerung ernst nimmt, sondern vermittelt eher den Eindruck, dass man 160 Leute mit viel Tamtam für den Papierkorb arbeiten lässt.“

Für diese Einschätzung spricht ein Blick auf die Handlungsempfehlungen, die die verschiedenen Bürgerräte erarbeitet haben. So kritisiert der Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ in seinem im März 2021 an Bundestagspräsident Schäuble übergebenen Gutachten die europäische Flüchtlingspolitik scharf: Es sei „empörend, dass die EU gegen die universellen Menschenrechte und ihre eigene Gesetzgebung verstößt“.

Grundsätzlich wird empfohlen, „dass sich Deutschland für eine Koalition der Willigen einsetzt, das heißt gemeinsam mit anderen EU-Staaten vorangeht, wenn keine anderen Lösungen in der EU-Migrationspolitik zu erreichen sind“.

Zentrales Ergebnis des Bürgerrates „Demokratie“, der im November 2019 sein Gutachten veröffentlichte, ist das eindeutige Votum für bundesweite Volksentscheide. Der Bürgerrat „Bildung und Lernen“ plädiert in seinen im Dezember 2021 vorgelegten Gutachten unter anderem dafür, dass Kinder und Jugendliche „künftig in der Regel wie in anderen Ländern bis zur Jahrgangsstufe 10 gemeinsam lernen können“. Und zu den im Sommer 2021 fertiggestellten Handlungsaufforderungen des Bürgerrats „Klima“ gehörte ein sofortiges generelles Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen, von 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h in Innenstädten.

Nichts von alledem hat bislang Eingang in die Politik der rot-grün-gelben Bundesregierung gefunden. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass sich das noch ändert. Beispiel Tempolimit: Bei den Koalitionsverhandlungen interessierten weder die Wahlprogramme von SPD und Grünen noch das Ergebnis des Bürgerrats – entscheidend war ausschließlich der Raserwahn der FDP, die generelle Tempolimits verteufelt. Genau das zeigt jedoch die große Schwäche der Bürgerräte: Fehlt es an Verbindlichkeiten im Umgang mit den Bürgerguachten, werden deren Vorschläge schnell Opfer politischer Opportunitäten.

Jan Korte hofft, dass es bei dem gerade mit Unterstützung der Linksfraktion eingesetzten Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ nicht so sein wird. „Wir werden nicht akzeptieren, dass die Ergebnisse ein paar Abgeordneten im Ausschuss präsentiert werden und dann in der Schublade verschwinden“, sagte der Linken-Abgeordnete. „Wir wollen, dass der Bundestag konkret zu den Vorschlägen Stellung bezieht, wie es zum Beispiel in Belgien gemacht wird.“ Es müsse „eine Abstimmung im Parlament geben, welche Vorschläge umgesetzt werden und welche nicht“.

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