Pollesch-Stück an der Volksbühne: Das eine Gefühl, das nie enttäuscht

Mit Irritationen in homöopathischen Dosen inszeniert René Pollesch „Fantômas“ an der Berliner Volksbühne. Martin Wuttke ist darin eins der Highlights.

Ein Mann mit Pistole in der Hand steht auf einer Bühne und vor Leinwänden, die Hochhäuser zeigen

Charlie Chaplin hätte seine helle Freude an diesem Nachfolger: Martin Wuttke in „Fantômas“ Foto: © Apollonia T. Bitzan

„Buckel,“ schreit Martin Wuttke. Sein Oberkörper klappt wie ein Taschenmesser zusammen und wölbt sich nach hinten. Wuttke rast durch die endlose Beschreibung körperlicher Eigenschaften. Er tigert über die Bühnenrampe, steigert sich hinein in einen Wortrausch, den sein Körper mit immer neuen Bildern kommentiert.

Charlie Chaplin hätte seine helle Freude an diesem Nachfolger, der von O-Beinen über Spreizfüße bis zu sämtlichen Gesichtsdeformationen alles im Repertoire hat und dieses vielleicht längste Stück Slapstick weltweit mit einer Leichtigkeit umsetzt, die beim Zusehen einfach nur glücklich macht.

Und gleichzeitig fröstelt man innerlich, denn René Pollesch hat „diese Nummer“ in seinem neuen Stück „Fantômas“ in der Mitte angesiedelt. Da ist bereits ausgiebig über den Gefühlszustand Angst reflektiert worden, FBI-Mitarbeiter und/oder KGB-Personal (das ist ständig im Fluss) wurden eingeführt, und es wurde über das extrem subversive Potenzial von Lachen direkt vor der Hinrichtung kollektiv nachgedacht.

Und so ergötzt man sich an Wuttkes bizarren Körperverrenkungen und an seiner Stimme, die die unendliche Flut von Substantiven und Adjektiven in den Raum pflanzt, und erstarrt in dem Bewusstsein, dass es hier um praktisches Rüstzeug der erkennungsdienstlichen Behandlung geht. Wuttke beendet seine Tirade mit „Fantômas kann alles sein“.

Pollesch inspiriert vom Meisterverbrecher

Denn Pollesch hat sich diesmal von der gleichnamigen französischen Filmtrilogie über den Meisterverbrecher, der verschiedene Identitäten annehmen kann, inspirieren lassen. René Pollesch, Dramatiker und Regisseur in Personalunion, kopiert den Titel, lässt sein Bühnenpersonal drei Stunden lang um das nicht zu fassende Fantômas-Phantom kreisen und bleibt sich treu.

Das heißt, es geht nicht um Figurenentwicklung, nicht um Spannungsaufbau, sondern um Diskurs. Martin Wuttke und Benny Claessens reden sich immer mal wieder mit Nikolai Apollonowitsch oder Alexander Iwanowitsch an. Das spielt figurentechnisch keine Rolle, bringt aber ein bisschen Dostojewski-Flair in die Volksbühne. Das funktioniert, weil Pollesch sich hier sprachlich an den russischen Schriftsteller anlehnt und auch inhaltlich tief schürft.

„Fantômas“: Wieder am 13. und 22. Oktober sowie am 5. und 29. November in der Berliner Volksbühne.

In seinen besten Momenten wirken Polleschs Texte wie frischer Wind, der beim Zuhören alle Fasern neu aufstellt. Das gelingt ihm nicht jedes Mal, nicht bei jeder Inszenierung, aber definitiv mit „Fantômas“. Man möchte am liebsten sofort in Klausur gehen und nachdenken über die These: „Es gibt nur ein einziges Gefühl, das uns nicht täuscht, die Angst.“ Pollesch aber lässt sein Personal von philosophischen Höhen sehr schnell ins Tal der vermeintlichen Banalität purzeln.

Der vielschreibende Dramaturg hat seit den 1990ern immer mehr Leichtigkeit in seine Texte einfließen lassen. Hat er das richtige Personal wie hier mit Wuttke, Claessens und Kathrin Angerer, die die Übergänge vom Boulevard zu Erkenntnistheorie in einer Nanosekunde meistern und sich zum ganzen Text mit derselben Ernsthaftigkeit verhalten, dann entsteht eine Bühnenqualität, die singulär ist. Und was immer wieder neu besticht in seiner Dramatik als Folie beim Blick vom Theater nach draußen ist der friedliche ergebnisoffene Diskurs, der auf der Bühne leichtfüßig demonstriert wird.

Drei Stunden langer Gedankenspaziergang

Polleschs Texte lassen die Prot­ago­nis­t:in­nen oft in ihrer Blase, sie schrammen verbal nicht selten aneinander vorbei, darum wird es situativ leicht absurd. Bei „Fantômas“ springen die Themen, werden aber durch eine kreisförmige Dramaturgie immer wieder eingefangen.

So ist es nach drei Stunden (ohne Pause!), als hätte man einen langen Gedankenspaziergang gemacht mit Fantômas, der nicht einfach greifbar ist und auf den gerade deshalb so viel projiziert werden kann. Campell Caspary und Sonja Weisser rasen immer wieder als Fantômas-Phantome in Schwarz über die Bühne.

Leonard Neumann hat eine offene, begehbare Holzkonstruktion und eine Jurte, in der gefilmt wird, auf die Bühne gestellt. Wuttke & Co tun, egal wo sie gerade auf der Bühne sind, dasselbe, sie sind einander zugewandt und reden. Kathrin Angerer spricht das Wort „Terror“ aus, als hätte sie es vorher noch nie gehört.

Und Wuttke sagt: „Ich bin entschlossen, mich in einen Hinterhalt locken zu lassen.“ Produktive Irritationen in homöopathischen Dosen. Und mittendrin als Highlight der Wuttke-Slapstick, wegen dem die Inszenierung zu einem Renner werden wird.

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