Zwei Männer begrüßen sich per Handschlag

Nah an der Zielgruppe: Sozialarbeiter Ferit Kılıc (rechts) ist immer gut gelaunt Foto: Stefan Rampfel

Projekt für Jugendliche in Göttingen:Eine Frage des Respekts

Das Göttinger Projekt „Brothers“ will Reflexionen über Begriffe wie Ehre, Respekt und Gewalt anzuschieben – nicht nur für migrantische Jugendliche.

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11.1.2024, 03:00  Uhr

Die Geschichte, wie er zu den „Brothers“ kam, erzählt Ferit Kilic immer wieder gern. Er war über eine Ausschreibung gestolpert, in der Teamleiter für die Arbeit mit migrantischen Jugendlichen gesucht wurden. Und dachte bei der Projektbeschreibung sofort: Das ist es. Das will ich machen. Er schrieb eine Bewerbung, brachte sie direkt ins Büro der Bonveno Göttingen gGmbH und sagte: „Hier bin ich, ihr braucht nicht weiter zu suchen.“

Dabei ist Ferit Kilic nicht einmal Sozialarbeiter. Der 32-Jährige hat Veranstaltungskaufmann gelernt. Er ist chronisch gut gelaunt („Ich habe maximal an zwei Tagen im Monat schlechte Laune“), trägt Sneaker, Hoodie, einen sorgsam gestutzen Bart und Undercut, Gel im schwarzen Haar.

Damit ist er ein Prototyp dessen, was man mittlerweile als „migrantisch gelesen“ beschreibt. Klar, sagt er, hat er diese Fragen alle durch: Was bin ich denn nun eigentlich? Deutscher? Türke? Keins von beiden? Beides? Mittlerweile beantwortet er die Frage, woher er kommt, nicht mehr so einfach, sagt er. Selbst wenn sie von den Jungs kommt. Er fragt zurück: „Warum fragst du? Warum ist das wichtig?“

Die Arbeit mit und an der eigenen Biografie, die Nähe zur Zielgruppe, ein bisschen pädagogisches Talent – das ist für dieses Projekt wichtiger als eine einschlägige Vorbildung. Auch wenn Kilic mittlerweile angefangen hat, berufsbegleitend Soziale Arbeit zu studieren.

Orientiert am preisgekrönten „Heroes“-Projekt

Wer Kilic einmal mit den Jungs erlebt hat, ahnt: Für das Brothers-Projekt ist er ziemlich sicher eine Idealbesetzung. Die Idee dahinter ist nicht ganz neu. Sie orientiert sich an dem viel besprochenen, preisgekrönten Präventionsprojekt „Heroes“, das ursprünglich aus Berlin kommt und mittlerweile in etlichen anderen Großstädten Fuß gefasst hat. Die Heroes unterstützen auch die Ausbildung der Teamleiter.

Kurz gefasst sollen in diesem Projekt ältere Jungs mit jüngeren Jungs das besprechen, was oft ein interkulturelles Minenfeld ist: Fragen rund um Ehre, Respekt, Gleichberechtigung, Identität, Toleranz und Gewaltfreiheit. In Göttingen sucht man nach Wegen, dieses Konzept auch außerhalb der großen Ballungszentren umzusetzen. Und wenn „Heroes“ aufs Land ziehen, werden sie eben zu „Brothers“.

Die taz durfte bei einem Gruppentreffen mit drei angehenden Brothers dabei sein. Es ist ein später Dezembernachmittag im alternativen Veranstaltungszentrum Musa in Göttingen. Eigentlich ist die Gruppe größer, aber so kurz vor den Weihnachtsferien und bei den grassierenden Krankheitswellen bröckelt die Teilnahme schon einmal.

Gekommen sind Saad (19), Renis (16) und Ahmad (15). Saad ist erst vor ein paar Jahren mit seiner Familie hierher geflüchtet, die anderen beiden sind hier aufgewachsen. Sie sind in genau der Phase, wo es für viele Jungs schwierig wird – noch nicht so richtige Männer, aber eben auch keine Kinder mehr. Und schon mit einer Statur ausgestattet, bei der manche Menschen auf wachsam schalten – vor allem, wenn sie in Gruppen unterwegs sind.

Diskutieren über Werte und Einstellungen

„Nee, ich grüße so alte Leute nicht mehr, die gucken mich immer komisch an, als wollte ich was von denen“, wird Renis später sagen, als es um Höflichkeit geht. „Na und?“, gluckst Saad, „musst du trotzdem machen.“

Jetzt helfen sie dem Teamleiter Ferit Kilic aber erst einmal, Snacks und Getränke rüber zum Gruppentisch zu schleppen, allen einzuschenken, Kuchen zu verteilen. Auch das gehört zum Konzept: Eine Willkommens-Atmosphäre zu schaffen, in der sich jeder wohlfühlt – und ganz nebenbei zu vermitteln, dass diese Art von Fürsorge nicht zwangsläufig Frauenarbeit sein muss.

Das Projekt zielt im Grunde auf drei Zielgruppen: Da sind zum einen die Jugendlichen, die zu „Brothers“ ausgebildet werden. Über ein bis zwei Jahre hinweg setzen sie sich unter der Anleitung von Teamleitern wie Ferit Kilic jede Woche zusammen und diskutieren über Wertvorstellungen, Einstellungen, aber auch alltägliche Probleme. Am Ende sollen sie als Multiplikatoren wirken. Zusammen mit den Teamern gehen sie in Schulen und geben Workshops, um in den Schulklassen ähnliche Reflektionsprozesse anzustoßen. Für Fachkräfte wie Lehrer, Erzieher und Sozialarbeiter werden eigene Fortbildungen angeboten.

Bevor es beim wöchentlichen Treffen der angehenden Brothers inhaltlich zur Sache geht, fragt Kilic, wie ihre Woche war. „Normal“, sagen Saad und Ahmad, das Übliche halt: Schule, Zocken, Sport.Aber Renis platzt fast: „Ich hab ein Problem. Ich hatte schon wieder Ärger in der Schule. Alter, ich halt das nicht mehr aus. Immer kommen die zu mir, immer bin ich schuld. Ich bin voll ausgerastet.“ Es braucht ein paar Schleifen und Nachfragen, bis Kilic sich ein Bild davon zusammengebastelt hat, was passiert ist.

Offenbar hat jemand in der Schule einen Tisch ins Treppenhaus geworfen. Einen schweren Tisch und während des Schulbetriebs. Vandalismus, und zwar kein ganz ungefährlicher. Und weil Renis und sein Kumpel Ahmad nun einmal als Unruhestifter bekannt sind, fiel der Verdacht schnell auf sie. Vier, fünf Lehrer hätten am Ende auf ihn eingeredet, beschreibt Renis die Situation. Und überhaupt nicht zugehört. Da sei er halt ausgerastet und habe die angebrüllt. Und dann seinen Vater und seinen Bruder angerufen.

Wieder und wieder kaut Kilic die Situation mit Renis durch. „Okay. Ich glaube dir, dass du es nicht warst. Aber kannst du dir vorstellen, warum die auf diese Idee kommen?“ Ja, räumt Renis mit einem Seitenblick auf die Reporterin ein, „ich war früher schon schlimm. Richtig schlimm. So fünfte und sechste Klasse.“ Sein Freund Ahmad schnaubt. „Na gut, siebte und achte auch.“

Ein Mann gestikuliert, drei Jugendliche hören zu

Diskutieren, auch mal provozieren, immer wieder nachfragen: Brothers-Treffen Foto: Stefan Rampfel

Aber dieses Mal, schwört er, ist er es nicht gewesen. „Okay, okay“, sagt Kilic immer wieder, „ich glaube dir ja.“ Und dann sagt er etwas, bei dem sich den meisten Lehrern wahrscheinlich die Nackenhaare sträuben: „Es ist auch richtig, dass du dir Unterstützung holst, wenn du das Gefühl hast, die reden da zu viert auf dich ein und du wirst nicht gehört.“ „Aber“, schiebt er nach, „warum hast du nicht deine Mutter angerufen?“ Renis stutzt. „Die hat doch keine Zeit.“

„Immerhin“, meint Kilic, „hast du versucht, das zu klären. Du hast gesagt, dass du das ungerecht findest. Noch vor einem Jahr wärst du handgreiflich geworden oder abgehauen. Das ist doch ein Fortschritt, oder? Ich bin stolz auf dich.“ Renis kratzt sich verlegen am Kopf. „Na ja“, brummt er.

Diese Szene ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt. Aber sie zeigt ziemlich gut, was ein wesentlicher Bestandteil des Projekts ist. Um es im Pädagogendeutsch der Camino gGmbH zu sagen, die das Projekt im Auftrag der Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention ausführlich evaluiert hat: „Die Teilnehmer sind besser als früher in der Lage, Emotionen zu verbalisieren und Bedürfnisse zu artikulieren.“

Der richtige Ton für die wichtigen Themen

Die Grundbedingung dafür ist das grundsätzliche Wohlwollen, mit dem Kilic „seinen“ Jungs begegnet. Er trifft den richtigen Ton, er versteht, wie sie ticken. Und sie danken es ihm mit großem Vertrauen. Das braucht es auch, wenn es dann ans Eingemachte geht und die Themen diskutiert werden, bei denen man unterschiedliche Haltungen hat: Homosexualität zum Beispiel. Oder ob die Schwester einen Freund haben darf.

Grundsätzlich gilt: Alles darf gesagt werden. Weil nur das, was auf dem Tisch liegt, auch bearbeitet werden kann. Die Jungs müssen lernen, konträre Positionen auszuhalten, zu argumentieren und zu reflektieren. „Wir diskutieren echt kontrovers. Manchmal provoziere ich die auch hart. Wir haben uns auch schon angeschrien“, erzählt Kilic.

Erst wenn sie das durch haben und zertifizierte Brothers sind, dürfen sie mit den Teamleitern in die Schulworkshops gehen. Da sollen sie das weitergeben, was sie gelernt haben. In kleinen Rollenspielen werden die Themen aufbereitet und anschließend in der Klasse diskutiert. Lehrer müssen draußen bleiben.

An diesem Nachmittag halten sich aber alle zurück, so unter Pressebeobachtung. Es geht um das Thema „Respekt“. Was ist das eigentlich?, fragt Kilic. „Na ja, so halt anständig reden, ne?“, versuchen sich die Jungs an einer Definition. Irgendwas mit höflich sein und „Sie“ sagen, vermuten sie.

„Aha“, sagt Kilic. „Sonst nichts? Wie ist das zum Beispiel mit deinem Vater. Hast du Angst vor dem oder Respekt? Gibt es da einen Unterschied? Wirst du respektiert? Von deinen Klassenkameraden zum Beispiel? Muss man jemanden kennen, um ihn zu respektieren? Respektiert man Fremde anders als Freunde?“

Wieder und wieder bohrt er nach. Fragt nach Beispielen, macht neue Aspekte auf. Den Jungs fällt es gar nicht so leicht, das alles zu beantworten. Irgendwann fangen sie an zu kaspern, rumzurangeln, zu kichern. Kilic merkt sofort, wenn die Luft raus ist. Er schließt das Thema ab, ohne es wirklich zu beenden. „Reden wir nächstes Mal weiter drüber.“ Auch das ist wichtig in diesem Konzept, sagt er: „Wir schreiben niemandem vor, was er zu denken hat. Ich liefere keine fertigen Antworten. Sie sollen ihre eigenen Positionen formulieren und hinterfragen.“

Niedersächsischen Sozialpreis gewonnen

Respekt, sagt Projektleiterin Julia Pfrötschner, sei so ein Schlagwort, das auch in den Workshop-Anfragen aus den Schulen immer eine Riesenrolle spiele. Was genau damit gemeint ist, sei oft genauso diffus wie die ersten Definitionsversuche der Jungs.

Workshop-Anfragen hat das Projekt jedenfalls mehr, als es bewältigen kann. Da ergeben sich mit dem Zug aufs Land auch noch einmal ganz andere Schwierigkeiten, haben sie festgestellt. Die erste Brothers-Gruppe gab es in Hann. Münden im Landkreis Göttingen. Die Jungs vom eigenen Schulunterricht zu befreien und für die Workshops an andere Schulen zu bugsieren, ist manchmal gar nicht so einfach.

Aber das Projekt hat schon so einige Herausforderungen bewältigt. Die Coronapandemie funkte ihnen voll dazwischen, der zweite Teamleiter neben Ferit Kilic zog weg, die Förderung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) im Bereich „Soziale Innovation“ lief nach zwei Jahren aus.

Julia Pfrötschner ist trotzdem zuversichtlich. Sie haben den niedersächsischen Sozialpreis gewonnen und eine durchweg positive Evaluierung erhalten. Mittlerweile wird das Projekt von der Stadt und dem Landkreis Göttingen finanziert – wenn auch nicht im gleichen Umfang wie vorher. Pfrötschner versucht, das Konzept an Nachahmer in anderen Städten zu vermitteln. Das Interesse ist in jedem Fall riesig, die Umsetzung manchmal nicht ganz einfach. Vor allem, weil man halt erst einmal so jemanden wie Ferit Kilic finden muss.

Korrektur: Wir hatten ursprünglich geschrieben, die Anschubfinanzierung für das Projekt sei durch das Niedersächsische Sozialministerium erfolgt. Das ist nicht der Fall. Sie wurde aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) im Bereich „Soziale Innovation“ über das Niedersächsische Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung gefördert.

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