Prozess um Heimschließung: Haasenburg gewinnt

Der Heimfirma hätte 2013 nicht die Erlaubnis komplett entzogen werden dürfen, sagt das Verwaltungsgericht. Das Ministerium prüft nun das Urteil.

Das Kinder- und Jugendzentrum Haus Babenberg der Haasenburg GmbH

Eine unerwartete Wende im Prozess um die Haasenburg GmbH Foto: Wolfgang Borrs

HAMBURG taz | Die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Cottbus hat am Donnerstag entschieden, dass die Schließung der drei Heime der Haasenburg GmbH durch das Brandenburgische Bildungsministerium im Jahr 2013 rechtswidrig war. Damit gewinnt der Betreiber, der 2015 gegen den Entzug seiner Betriebserlaubnis geklagt hatte. Die Begründung des Gerichts: Die gesetzlichen Voraussetzungen hätten nicht vorgelegen. Es habe sich nicht feststellen lassen, dass das Wohl der Kinder gefährdet war und dass die Heimfirma nicht in der Lage gewesen sei, dies abzuwenden.

Damit vollzog die Richterkammer eine 180-Grad-Wendung gegenüber jenem Urteil, dass ihre Kollegen der 1. Kammer im Januar 2014 fällten. Damals, als der Betreiber versuchte, im Eilverfahren die Heimschließung zu stoppen, befanden sowohl die erste Instanz als auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, dass Überwiegendes dafür spricht, dass das schematische Konzept der Haasenburg-Heime die Eskalationen mit verursachte. Der unbedingte Wille, auf jede auch unbedeutende Regelverletzung konsequent zu reagieren, führte am Ende zum Einsatz von körperlichem Zwang gegen die Kinder und Jugendlichen. Die Rede ist von Handgriffen der Betreuer, die auch Schmerzen und Verletzungen verursachten.

Der Vorsitzende Richter Thomas Hempen sagte gleich zu Beginn der Verhandlung: „Die Kammer wird hier nicht über Sinn und Wert von fachpädagogischen Konzepten entscheiden“. Er trug – dieselben 24 Aktenordner des alten Eilverfahrens im Rücken – einen „Sachbericht“ vor, der mit den Worten endete, die drei Berufsrichter kämen zu dem Standpunkt, „dass der komplette Entzug der Betriebserlaubnis nicht rechtens war“.

Die Haasenburg, die 2001 das erste Heim in Neuendorf, dann 2005 eines in Jessern und schließlich 2008 ein drittes in Müncheberg eröffnete und 114 Heimplätze hatte, habe zuletzt im März 2013 für alle drei Einrichtungen durch das Landesjugendamt Brandenburg eine neue Betriebserlaubnis bekommen. Der Kläger hatte argumentiert, in dem halben Jahr bis zur Schließung im November 2013 habe sich nichts geändert. Jugendämter von elf Behörden anderer Bundesländer hätten im August 2013 bei einer Fachdiskussion zurückgemeldet, bei 50 Prozent der Untergebrachten führe dies zum Erfolg in Form einer Stärkung der Lebenskompetenz.

Keine Anhörung von Zeugen

Über die Zustände der Haasenburg hatte die taz damals berichtet. Bei einer vom Jugendministerium daraufhin eingesetzten Untersuchungskommission hatten sich im Sommer 2013 zahlreiche junge Betroffene gemeldet, die von 2003 bis 2013 in den Heimen waren und sich tief geschädigt sahen. Vor allem in der sogenannten „Phase rot“ erlebten sie eine harte Einschränkung ihrer persönlichen Autonomie.

Hempen sagte nun, es stelle sich die Frage, ob die vor Erteilung der jüngsten Betriebserlaubnis liegenden Vorfälle „verbraucht“ seien. Die Kammer neige zwar dazu, dies nicht ganz so eng zu sehen, aber Vorgänge aus 2005 oder 2009 lägen schon „so weit zurück“.

Auch sei der vollständige Entzug der Betriebserlaubnis die „schärfste Maßnahme“. Denn nur 56 der 114 Heimplätze waren Teil der geschlossenen Unterbringung. Deshalb hätten sich die Richter gefragt, ob es nicht möglich gewesen wäre, die freien Plätze und bestimmte Projektgruppen dort fortbestehen zu lassen. Auch wären erneute Auflagen das mildere Mittel gewesen.

Hempen übernahm damit offenbar in weiten Teilen die Argumentation des Klägers. Zeugen, etwa Betroffene, wurden nicht angehört. Bei den untergebrachten Kindern und Jugendlichen handle es sich um eine „schwierige Klientel“, sagte er, die schon die vorherigen Stufen der Kinder- und Jugendhilfe ohne Erfolg durchlaufen hätten. So schlimm manche Einzelfälle seien, müsse man das Wohlergehen der Bewohner in Gesamtheit betrachten.

Der Richter, dem dieser Fall übertragen wurde, nachdem er acht Jahre in der Schublade lag, schien sich nicht allzu tief in die Materie einlassen zu wollen. Ob das pädagogische Konzept als solches das Kindeswohl gefährde, könne sein Gericht nur eingeschränkt überprüfen. Ein Konzept, das darauf angelegt wäre, den Willen der Minderjährigen mit allen Mitteln zu brechen, wäre nicht vom Landesjugendamt genehmigt worden.

Das Gericht könne auch nicht feststellen, dass überdurchschnittlich häufig Zwangsmaßnahmen angewendet wurden. Auch wenn man in Einzelfällen unterschiedlich bewerten könne, ob so eine „Anti-Aggressionsmaßnahme“ nicht angemessen war oder nicht früh genug eingestellt wurde, müsse eine Gefährdung durch das Konzept herbeigeführt worden sein.

„Das kann nicht der Kinderschutz der Zukunft sein“

Eben das las sich in dem nun für rechtswidrig erklärten Widerrufsbescheid des Jugendministeriums vom Dezember 2013, der der taz vorliegt, ganz anders. „Die festgestellten Anti-Aggressionsmaßnahmen (AAM) begründen eine erhebliche Gefahr für das körperliche, geistige und seelische Wohl der Jugendlichen in allen Einrichtungen“, heißt es dort. Der Amtsleiter führte aus, dass er immer wieder Auflagen mit dem Ziel der Reduzierung von Anti-Aggressionsmaßnahmen erteilte, von 2005 bis 2011 nannte er elf solcher Vorgänge.

Und doch kam es auch im Mai 2013, also unter der neusten Betriebserlaubnis, bei einer Jugendlichen zu acht Anti-Aggressionsmaßnahmen. Als Auslöser war notiert, das Mädchen habe provokantes Auftreten gezeigt und alle Punkte des Tagesstrukturplans verweigert. Die Maßnahmen hätten phasenweise als Standardprogramm immer wieder stattgefunden, schrieb das Ministerium in diesem Widerruf. In den Teams hätten Hinweise auf Vermeidungsstrategien der Eskalation gefehlt.

Der Anwalt des Jugendministeriums, Thomas Mörsberger, hatte offenbar mit der Wendung des Gerichts nicht gerechnet und zeigte sich in der Verhandlungspause entsetzt: „Das kann nicht der Kinderschutz der Zukunft sein“. In der Verhandlung sagte er, es sei 2013 aus Sicht der Aufsichtsbehörde eine „Gesamtschau“ notwendig gewesen, ob der Träger zuverlässig in der Lage ist, das Kindeswohl zu gewährleisten. Dabei gehe um einen spezifischen Kindeswohlbegriff für die Heimerziehung. Auch nach einer erteilten Betriebserlaubnis müsse dies immer wieder überprüft werden, wenn es Hinweise gebe.

Der Vorschlag, statt des Entzugs der Erlaubnis mit Auflagen zu agieren, wäre nicht praktikabel gewesen. Denn die im Sommer 2013 eingesetzte Untersuchungskommission zur Haasenburg habe so zahlreiche Empfehlungen gegeben, dass deren Umsetzung zwei Jahre gedauert hätte. „In den zwei Jahren habe ich Kinder und Jugendliche, die zu schützen sind“, so Mörsberger.

Auch den Vorschlag, zwischen freien und geschlossenen Plätzen zu differenzieren, hielt der renommierte Jurist, der früher selbst ein Landesjugendamt leitete und einer der Kommentatoren des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII ist, für nicht praktikabel. Es sei eine Gesamteinrichtung, in der sich Mitarbeiter auch gegenseitig vertreten. „Es ist eine Einrichtung, die einen Geist hat, die eine Kultur hat“, sagte er. Hier zu differenzieren sei nicht möglich.

Mörsberger sagte, er sei vom Ergebnis überrascht. Das Gericht habe diesen und weitere Punkte neu in die Verhandlung eingebracht, die schon vorher im Schriftverkehr geführt wurde. Der Anwalt bat deshalb, einen neuen Termin zu machen. Nachdem das Verfahren schon so viele Jahre dauere, was nicht an ihm gelegen habe, komme es auf „ein paar Monate mehr nicht an“. Als der Richter sich nicht offen dafür zeigte, beantragte er einen verzögerten Verkündigungstermin des Urteils mit der Gelegenheit für ihn, noch einmal schriftlich Stellung zu nehmen.

Doch dies lehnten der Anwalt der Haasenburg und das Gericht ab. Der Kläger-Anwalt musste überhaupt wenig sagen, weil der Richter auf seiner Linie war.

Opfer reagierten entsetzt

Verkündet wurde das Urteil am späten Nachmittag, als die Anwälte schon wieder abgereist waren. Das Gericht lässt nicht mal eine Berufung des Brandenburgischen Bildungsministeriums zu. Das müsste nun vor das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ziehen, um dieses Berufungsrecht einzuklagen. Bildungsminister Steffen Freiberg (SPD) sagte, sein Ministerium werde „die Urteilsbegründung und weitere rechtliche Schritte prüfen“.

Zwei ehemalige Haasenburg-Bewohner, die den Prozess verfolgten, reagierten entsetzt auf das Ende. „Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht für uns ehemalige Heimkinder“, sagte Renzo M. „Es zeigt, dass unsere Grundrechte weniger wert sind als die der Haasenburg GmbH“. Es bedeute auch, dass die Hoffnungen auf eine finanzielle Entschädigung schwinden. „Wir fordern das Brandenburgische Bildungsministerium auf, alle rechtlichen Schritte auszuschöpfen, um gegen das Urteil in Berufung zu gehen“.

Der Betreiber klagt parallel auf Schadensersatz, dazu soll es ein Verfahren beim Landgericht Potsdam geben. Auf die Frage, ob die Haasenburg GmbH mit der alten Betriebserlaubnis wieder öffnen könnte, sagte Thomas Mörsberger: „Grundsätzlich schon.“ Aber nach seiner Erfahrung komme es sehr maßgeblich darauf an, dass die Umgebung und die Verantwortlichen dafür sorgen, dass sich gewisse Dinge nicht unbeobachtet entwickeln.

Das Kinder- und Jugendhilferecht wurde 2021 reformiert, auch als Konsequenz aus dem Haasenburg-Fall. Es erleichtert fortan den Entzug einer Betriebserlaubnis, fordert Beschwerdemöglichkeiten zum Schutz vor Gewalt innerhalb und außerhalb einer Einrichtung und stellt explizit die Anforderung der Zuverlässigkeit von Trägern.

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