Prozess um angeblichen „Badewannen-Mord“: „Die 13 Jahre sind weg“

Es war einer der größten Justizirrtümer der deutschen Nachkriegsgeschichte. Jetzt wurde Manfred Genditzki vom Vorwurf des Mords freigesprochen.

Manfred Genditzki umrahmt von zwei Frauen

Nach dem Freispruch des Münchner Landgerichts ist Manfred Genditzki endlich wieder ein freier Mann Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

MÜNCHEN taz | Es ist Punkt 10 Uhr an diesem Freitagvormittag, als das linke Bein von Manfred Genditzki zur Ruhe kommt. Die Anspannung war ihm zuvor deutlich anzusehen. Während die Fotografen und Kameraleute im Gerichtssaal ihre Bilder einfingen, er sich noch ein letztes Mal vor dem Urteilsspruch mit seinen Verteidigern besprach, wippte er die ganze Zeit nervös mit dem Bein.

Doch dann, als die Richter den Saal betreten haben, die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren gegen Manfred Genditzki verkündet, die Worte „im Namen des Volkes“ und „wird freigesprochen“ fallen, steht das Bein still. Oben auf der Zuschauertribüne ist ein schwerer Seufzer zu hören, jemand beginnt zu weinen. Es ist Genditzkis Schwester.

Zum Schluss waren sie sich ja ohnehin alle einig: Die Staatsanwaltschaft forderte Freispruch, die Verteidigung forderte Freispruch, und so war es keine allzu große Überraschung, dass auch das Gericht zu dem Schluss kam: Manfred Genditzki hat mit dem Tod der Rentnerin Liselotte K. nichts zu tun. Er saß nicht nur für einen Mord im Gefängnis, den er nicht begangen hatte, sondern für einen Mord, den es nie gegeben hat. Denn nach allem menschlichen Dafürhalten war es ein Unfall, bei dem die alte Frau ums Leben kam.

Genditzki selbst verfolgt die anschließende Urteilsbegründung, die genau dies darlegt, weitgehend regungslos. Er sitzt aufrecht auf dem Stuhl, auf dem er schon so viele Verhandlungstage verbracht hat. Die Hände hat er in den Schoss gelegt und blickt vor sich hin. Erst hinterher, als er aus dem Gerichtssaal tritt, seine Kinder in den Arm nimmt, seine Frau küsst, von jemandem Blumen in die Hand gedrückt bekommt, erst dann wird er zum ersten Mal lächeln.

Wiederaufnahmeverfahren sehr selten

Es ist ein Prozess, der schon vor seinem Ende an diesem Freitag Justizgeschichte geschrieben hat. Wiederaufnahmeverfahren sind eine sehr seltene Sache. So weist Laurent Lafleur, der Pressesprecher des Landgerichts München, darauf hin, dass er seit fast 17 Jahren bei der Justiz sei und der Fall Genditzki in dieser Zeit das erste Wiederaufnahmeverfahren am Schwurgericht des Landgerichts München I sei. Auch erfahrenere Kollegen könnten sich nur an ein weiteres Verfahren erinnern, bei dem es um ein Tötungsdelikt ging. „Da gab es am Ende aber eine erneute Verurteilung.“

Auch Justizirrtümer sind selten. Zumindest diejenigen, die von der Justiz selbst eingestanden werden. In sehr wenigen solcher Fälle hat in der deutschen Nachkriegsgeschichte jemand länger unschuldig im Gefängnis gesessen als Manfred Genditzki. So verurteilte etwa das Schwurgericht des Landgerichts Offenburg einen Mann wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus, der dann 14 Jahre seine Haft absaß, bevor seine Unschuld bewiesen war. Dieses Urteil fiel 1955.

Vom „Badewannen-Mord“ war in den ersten beiden Verfahren gegen Manfred Genditzki stets die Rede. Das vermeintliche Verbrechen, dessentwegen der Mann zweimal verurteilt wurde: Er soll am 28. Oktober 2008 die 87-jährige Liselotte K. in ihrer eigenen Badewanne ertränkt haben. Genditzki arbeitete in K.s Wohnanlage am Tegernsee als Hausmeister und half der alten Dame oft auch mit Erledigungen. Bei einem Streit, so befanden Staatsanwaltschaft und Gericht damals, habe er sie jedoch bewusstlos geschlagen, und, um die Tat zu vertuschen, dann umgebracht. Eine Mitarbeiterin eines Pflegedienstes hatte Liselotte K. angezogen in der eingelaufenen Badewanne aufgefunden. Ein Bein hing über den Wannenrand, die Rentnerin war tot.

Auf Mordtheorie versteift

Daraufhin lief das Ganze – etwas verkürzt – folgendermaßen ab: Man legte sich zu Beginn der Ermittlungen sehr schnell auf die Mordtheorie fest. Das fing schon bei der Inaugenscheinnahme durch einen ersten Gerichtsmediziner an und setzte sich unmittelbar mit den einseitigen Ermittlungen der zuständigen Kommissarin und der Arbeit der Staatsanwaltschaft fort. Stur blieb man bei der These, fegte Indizien, die gegen sie sprachen, vom Tisch.

Unter dieser Prämisse kam dann nur Genditzki als Täter in Frage. Er war der Letzte, der die Frau lebend gesehen hatte. Kurz zuvor hatte er sie noch aus dem Krankenhaus geholt, in dem sie ein paar Tage gewesen war. Dass es kein überzeugendes Motiv gab – geschenkt.

Dazu kam: Alle nach Meinung von Genditzkis Verteidigern zum Teil an den Haaren herbeigezogenen Indizien ließen sich einigermaßen schlüssig erklären. Beispiel: Ein Schlüssel, der von außen in der Wohnungstür steckte. Polizei und Staatsanwaltschaft deuteten dies als Versuch Genditzkis, zu verhindern, dass man ihn als Hausmeister rufe und er beim Auffinden der Leiche zugegen sei.

Aber welchen Grund soll er dafür gehabt haben, fragt Richterin Ehrl. Plausibler findet sie Genditzkis Begründung: Liselotte K. habe ihn gebeten, den Schlüssel stecken zu lassen, damit später der Pflegedienst auch dann in die Wohnung komme, falls sie sich hingelegt habe. Oder die angeblich falsche Aussprache eines Namens: Die Polizei vermutete einen Vertuschungsversuch, Genditzki habe verhindern wollen, dass man eine Zeugin dieses Namens ausfindig mache. In Wirklichkeit handelte es sich schlicht um einen holländischen Namen. Und Genditzki sprach ihn korrekt aus.

„Keine Anhaltspunkte für ein Tötungsdelikt“

Letzten Endes war es aber vor allem ein privat finanziertes biomechanisches Gutachten, das Regina Rick in Auftrag gegeben hatte. Rick ist die Anwältin Genditzkis, die seit Jahren – trotz diverser Rückschläge – für ein Wiederaufnahmeverfahren kämpfte. Das Gutachten legte anhand von Computersimulationen dar, dass die Rentnerin auch bei einem Sturz in der Weise in der Wanne zum Liegen gekommen sein kann, in der sie aufgefunden wurde, dass dies sogar wahrscheinlich sei. Der Gerichtsmediziner hatte dies bei einer Begutachtung des Tatorts spontan ausgeschlossen und den Fall so ins Rollen gebracht.

Mittels eines thermodynamischen Gutachtens konnte außerdem der Todeszeitpunkt näher eingegrenzt werden – auf einen Zeitraum, für den Genditzki ein Alibi hat. Sie sei, „vorsichtig formuliert, sehr verwundert“ über die damaligen Ermittlungen, führte die Vorsitzende Richterin aus, wolle aber „nicht beurteilen, was und warum damals alles irgendwie schiefgelaufen ist“. Manches sei schon sehr einseitig zu Genditzkis Lasten „verarbeitet“ worden.

Ehrl spricht von einer „Kumulation von Fehlleistungen“. Als Ergebnis des Wiederaufnahmeverfahrens stehe für das Gericht fest: „Es gibt keinen tatsächlichen Anhaltspunkt, dass Frau K. Opfer eines Tötungsdeliktes geworden ist.“ Der Angeklagte sei „aus tatsächlichen Gründen wegen erwiesener Unschuld freizusprechen“.

Am Ende wendet sich die Richterin noch einmal direkt an Genditzki, der das Verfahren mit „bewundernswerter Geduld“ verfolgt habe: „Es tut uns wirklich aufrichtig leid.“ Und plötzlich wird auch die Stimme der sonst eher forschen Richterin etwas brüchig. Für sehr viele Jahre, sagt sie, sei Genditzki in Justizvollzugsanstalten inhaftiert gewesen. Es sei ihm nicht vergönnt gewesen, seine Kinder aufwachsen zu sehen, zur Beerdigung seiner Mutter zu gehen, alles das mit der Familie zu unternehmen, was Freude macht. „Wir wünschen Ihnen, dass Sie jetzt endlich wieder zur Ruhe kommen.“

Die Besuchertribüne ist während der Urteilsverkündung nahezu voll besetzt. Als Genditzki aus dem Gerichtssaal tritt, brandet Applaus auf, auch später noch mal, nachdem er vor den Kameras Auskunft darüber gegeben hat, wie es ihm jetzt geht. „Erleichtert“, sagt er, aber: „Grund zu Jubeln habe ich nicht. Die 13 Jahre sind weg.“ Er wisse, dass er heute Nacht wieder schlecht schlafen werde. Der eigentliche Verarbeitungsprozess beginne erst jetzt.

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