Sterbehilfe in Deutschland: Wie frei ist der Wille?

Am Montag fällt das Urteil über einen Arzt, der einer hoch depressiven Frau zum Suizid verhalf und jetzt wegen Totschlags angeklagt ist.

Zwei Männer stehen in einem Gerichtssaal.

Der angeklagte Arzt Christoph Turowski (l) und sein Anwalt Thomas Baumeyer stehen im Gerichtssaal 500 des Kriminalgerichts Moabit Foto: Jörg Carstensen/dpa

Am Ende des Vortrags der Sachverständigen spürte man eine große Erschöpfung im Verhandlungsraum, denn die Antwort auf die entscheidende Frage war nicht leichter, sondern schwerer geworden im Kriminalgericht in Berlin-Moabit: War Isabell R., 37, Tiermedizinstudentin, zu einer „freien Willensbildung“ fähig oder nicht, als sie beschloss, mithilfe des pensionierten Hausarztes Christoph Turowski zu sterben, weil ihr das Leben mit ihrer wiederkehrenden Depression nicht mehr lebenswert erschien?

Über diese Frage muss das Kriminalgericht entscheiden. Am Montag, dem 8. April, soll das Urteil fallen. Für den ehemaligen Berliner Hausarzt und Internisten Turowski, 74, geht es dabei um viel: Staatsanwältin Silke van Sweringen fordert drei Jahre und neun Monate Haft hauptsächlich wegen Totschlags in sogenannter mittelbarer Täterschaft in einem minderschweren Fall. Der Arzt hatte der Frau, die aufgrund ihrer depressiven Erkrankung laut Staatsanwaltschaft nur über eine „mangelnde freiverantwortliche Entscheidungsfähigkeit“ verfügte, am 12. Juli 2021 zur Selbsttötung verholfen.

Turowski, der damals schon in mehr als zwei Dutzend Fällen Suizidhilfe geleistet hatte, legte der Frau die tödliche Infusion, deren Zugang sie selbst öffnete, daher der Terminus „mittelbare Täterschaft“ in der Anklage.

Eine Grundlage für die Anklage ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020. Laut diesem Urteil ist die Hilfe zur Selbsttötung zwar straffrei. Aber nur, wenn der Sterbewunsch auf einem „autonom gebildeten freien Willen“ beruht und „frei und unbeeinflusst“ ist von „einer akuten psychischen Störung“. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn keine freie Willensbildung erkennbar ist, dürfen Ärzte keine Suizidhilfe leisten. In Essen wurde kürzlich der Psychiater Johann Spittler wegen Totschlags in einem minderschweren Fall verurteilt, der einem Patienten mit paranoider Schizophrenie zur Selbsttötung verhalf. Es handelte sich um einen Mann mit Wahnideen.

Isabell R. litt unter Depressionen, die schon in jungen Jahren auftraten. Bereits 2007 unternahm sie einen Suizidversuch mit einem Föhn in der Badewanne. Sie hatte eine Psychotherapie und mehrere Medikationen hinter sich. Nach einigen Jahren war die Depression seit Anfang 2021 wieder schlimmer geworden.

Ein erster Suizidversuch scheiterte

Im „Gesamtkontext“ könne man von einer Freiverantwortlichkeit ausgehen, sagte der Psychiater Matthias Dose, der von der Verteidigung als Sachverständiger herangezogen wurde. Auch schwer Depressive könnten sagen, „es geht mir um die Gesamtschau meines Lebens und das will ich nicht mehr so haben“. Es sei eine Diskriminierung psychisch Kranker, wenn man sie von vornherein aus der Suizidhilfe ausschlösse, ihnen den freien Willen abspreche.

Staatsanwältin van Sweringen hingegen befand, Isabell R. habe sich „unstreitig in einer psychischen Ausnahmesituation“ befunden, als sie den Arzt, der als Suizidhelfer medial bekannt war, im Juni 2021 kontaktierte. Nach Jahren der relativen Stabilität sei sie seit Anfang 2021 wieder in eine „zunehmend schlechtere depressive Phase gerutscht“. Der Arzt hätte sie in ihrem „krankheitsbedingten Irrtum“, dass sie „austherapiert“ sei, „bestärkt“ anstatt die geforderte Suizidassistenz abzulehnen.

Isabell R. hatte Christoph Turowski am 12. Juni 2021 kontaktiert und mit ihm ein anderthalbstündiges Vorgespräch geführt. Sie drohte, sich zu erhängen, wenn ihr der Arzt nicht helfe. Ein erster Suizidversuch am 24. Juni in ihrer Wohnung mithilfe von Medikamenten, die der Arzt beschafft hatte, scheiterte, weil sie die eingenommenen Tabletten erbrach.

Ein Bekannter alarmierte den Rettungsdienst. R. wurde am nächsten Tag in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen und dann am 12. Juli wieder entlassen. Sie hatte zuvor ein Hotelzimmer angemietet und rief Turowski noch am selben Tag zu sich, der die tödliche Infusion legte, deren Hahn sie eigenhändig aufdrehte.

Freie Willensbildung eingeschränkt, aber nicht aufgehoben

In den vier Wochen des Kontaktes mit dem Arzt hatte sie ihm 120 SMS- und Chatnachrichten geschickt. In fünf dieser Nachrichten hatte sie zwischenzeitlich davon gesprochen, von ihrem Suizidwunsch doch Abstand zu nehmen, dieses dann aber später widerrufen und die Suizidhilfe gefordert. Diese Ambivalenz sei „relevant“ für die Beurteilung der „Dauerhaftigkeit“ des Suizidwunsches, sagte van Sweringen. Das Bundesverfassungsgericht hatte gefordert, der Suizidwunsch müsse von „Dauerhaftigkeit“ und „innerer Festigkeit“ getragen sein, um als freiverantwortlich zu gelten.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der forensische Psychiater und Sachverständige Stefan Hütter kam allerdings zu dem Schluss, man könne der Frau „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ „eine freie Willensbildung nicht absprechen“. Für eine wahnhafte Depression gebe es „keinerlei Hinweise“. Auch die Ärzte der psychiatrischen Klinik, aus der Isabell R. am 12. Juli entlassen worden war, hätten zu diesem Zeitpunkt keine Aufhebung des freien Willens erkannt.

Sie sahen R. bei ihrer Entlassung auch nicht mehr als suizidgefährdet an. Die freie Willensbildung bei R. sei durch die Depression zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben gewesen, so der Sachverständige. Hütter hatte die neun Verhandlungstage verfolgt, Zeu­g:in­nen, auch Be­hand­le­r:in­nen befragt und Dokumente studiert.

Ein „zu lahmarschiger“ Gesetzgeber

R. hatte dem Personal in der Klinik und ihren Freundinnen von Zukunftsplänen erzählt, obwohl sie noch während ihres Klinikaufenthalts ihren Suizid mit der Anmietung des Hotelzimmers plante. Er könne in seiner retrospektiven Betrachtung nicht sagen, ob sich Isabell R. auch das Leben genommen hätte, wenn Turowski nicht für die Suizidhilfe zur Verfügung gestanden hätte, erklärte Hütter.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil erklärt, der Gesetzgeber könne „prozedurale Sicherungsmechanismen“ für die Suizidhilfe einführen. Zwei Gesetzentwürfe für die ärztliche Suizidhilfe, die die Konsultation einer Beratungsstelle oder noch weitergehende Begutachtungen als Voraussetzung festschreiben wollten, fanden allerdings im vergangenen Jahr im Bundestag keine Mehrheit. Verteidiger Thomas Baumeyer rügte, der Gesetzgeber sei „zu lahmarschig“ gewesen, um ein Sicherungskonzept zu entwickeln. Dies dürfe aber nicht auf dem Rücken seines Mandanten ausgetragen werden.

In Österreich zum Beispiel, wo die ärztliche Suizidhilfe ebenfalls erlaubt ist, müssen die sterbewilligen Personen mit zwei voneinander unabhängigen Ärz­t:in­nen Vorgespräche führen, wovon eine Ärz­t:in eine palliativmedizinische Qualifikation aufweisen muss. Dort ist es nicht möglich, dass ein einziger Arzt Vorgespräche, Begutachtung und Suizidhilfe in einem vornimmt. Werde Turowski schuldig gesprochen, werde man vor den Bundesgerichtshof ziehen, kündigte Baumeyer an.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

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