Tag gegen Gewalt an Frauen: Die Wurzel allen Übels

2022 wurden so viele Frauen ermordet wie seit 20 Jahren nicht. Es reicht nicht, über Zahlen zu sprechen. Männlichkeit ist ein gewaltvolles Konzept.

Protestierende

Am internationalen Frauentag im März protestieren auch in Istanbul Menschen gegen Femizide Foto: Sedat Suna/epa

Die Zahl der Femizide ist auf dem höchsten Stand seit 20 Jahren. 89.000 Frauen und Mädchen wurden im vergangenen Jahr vorsätzlich getötet. Neunundachtzigtausend. Mehr als die Hälfte von ihnen durch ein Familienmitglied oder den eigenen Partner. Das teilten die UN-Organisationen UN Women und die für Drogen und Kriminalität zuständige UNODC mit. Jetzt also wieder: Aufschrei, für einen Tag. Dann: Vergessen, bis zum nächsten November.

Gewalt gegen Frauen, das ist dieses lästige Pflichtthema des Feminismus, über das sich einmal im Jahr, zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November performativ entrüstet werden muss. Auch in Deutschland wird ja jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Expartner getötet. Glaubt man gar nicht. Es schüttelt einen kurz, so niederschmetternd ist die Vorstellung. Dann ist aber wieder gut und man zieht sich zurück in die Wohlfühlzone der spaßigen Themen: Sex, Flirts, Liebe, die Dinge eben, bei denen es als Mann reicht, nach Konsens zu fragen und seine ambivalente Vaterfigur zu reflektieren, um als Feminist zu gelten.

Dabei steigen die Zahlen auch in Deutschland: Um 9 Prozent sind die Fälle partnerschaftlicher Gewalt in Deutschland im vergangenen Jahr angestiegen, um 12 Prozent in den letzten fünf Jahren. 14 Femizide gab es 2022 allein in Berlin. Jeden einzelnen Tag werden in Deutschland Frauen verprügelt und vergewaltigt. Gewalt gegen Frauen ist kein Überbleibsel aus fast überwundenen Zeiten. Sie nimmt zu. An echten Menschen, echten Körper. Irgendwie nur spricht niemand so richtig darüber.

Vielleicht liegt es an der kognitiven Dissonanz unserer Gegenwart. Wir sehen große Emanzipationsschritte auf der einen Seite: Das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für die patriarchalen Strukturen ist gewachsen und überhaupt ist es heute schwer en vogue, Feminist zu sein. Und wir sehen brutalen Wahnsinn auf der anderen Seite: Statistisch gesehen erhöht die Heirat für eine Frau das Risiko, ermordet zu werden. Als feministisches Paradox bezeichnet die Autorin Susanne Kaiser das. Der Emanzipation der Frau wird mit einem Backlash begegnet. Feminismus wird Antifeminismus und Gewalt entgegengesetzt. Doch diese Gewalt schweigt man lieber weg.

Kapitalistische Notwendigkeit

Denn würde man darüber reden, tatsächlich und nicht nur anhand abstrakter Zahlen, dann müsste man genauer hinschauen und dann könnte es ungemütlich werden. Schließlich sind die neunundachtzigtausend Femizide im Jahr 2022 nur der schlimmstmögliche Auswuchs, die höchste Eskalationsstufe einer Lebensrealität, die alle Frauen teilen. Näher hinzuschauen würde bedeuten, Männlichkeit als grundsätzlich gewaltvoll zu erkennen. Als ein historisch gewachsenes Herrschaftsprinzip, dem Gewalt inhärent ist. Es würde bedeuten zu erkennen, dass unser System auf einem Mensch-Ideal basiert, das sich gewaltvoll durchzusetzen und das zu unterdrücken weiß. Dass Gewalt gegen Frauen kein Nebenwiderspruch, sondern eine kapitalistische Notwendigkeit ist.

Das aber klingt kompliziert und anstrengend und es gibt so viele andere Baustellen, die sich viel pragmatischer angehen lassen. Also belässt man es bei oberflächlichen Solidaritätsbekundungen und verweist auf die Istanbul-Konvention, die soll es regeln.

So sehr wir es uns anders wünschen: Die Lebensrealität einer Frau ist auch im Jahr 2023 bedrohlich und grausam. Wir müssen über Gewalt reden und über die Struktur, in die sie sich einbettet. Man könnte fast sagen: Wir müssen die Männlichkeit wiederentdecken. Und zwar als Wurzel allen Übels.

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