Universitäten und die Bologna-Reformen: Notwendiges Übel

Begeisterte Studierende? Stoff weglesen, Stundenpläne abarbeiten, Punkte sammeln - Tania hat keinen Bock mehr auf Uni. Drei Tage im studentischen Alltag.

Studierende fordern mehr Geld - und auch mehr Spaß: Demo zum Bildungsstreik vergangene Woche in Berlin. Bild: dpa

Der erste Tag: In der "Rostlaube" der Freien Universität in Berlin sieht alles so aus wie schon vor 20 Jahren. Auf den Heizungen, vor den Bibliotheken, vor der Mensa hocken Studierende, unterhalten sich, lesen, arbeiten. Einige der alten Cafés haben mittlerweile dichtgemacht, aber dafür gibt es neue.

Im "Projektcafé Kauderwelsch für eine ökologische Welt" etwa sitzt eine junge Frau auf einem abgeschabten Ledersofa und liest in einem amerikanischen Roman. Tanja* ist 25 Jahre alt und studiert Erziehungswissenschaften. Sie trägt viele bunte Tücher, neben ihr liegt eine Jutetasche aus dem Weltladen. Das Haar ist auf einer Seite kurz rasiert. Natürlich hat sie Zeit, sagt sie und legt ihr Buch zur Seite.

Tanja studiert seit drei Jahren. Wenn alles glatt läuft, macht sie nächstes Jahr ihren Master. "Ich habe keinen Bock mehr auf Uni", sagt sie. Immer ging es nur darum, Stoff wegzulesen, Stundenpläne abzuarbeiten, Punkte zu sammeln und auf Anwesenheitslisten aufzutauchen. Die vollen Hörsäle, meint sie, wären kein Problem, wenn es wenigstens um Inhalte ginge.

Die Bologna-Reformen wurden 1999 von 29 europäischen Bildungsministern in Bologna mit dem Ziel beschlossen, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Zum Wintersemester 2010/2011 waren rund 82 Prozent aller Studiengänge an deutschen Hochschulen umgestellt:

Das Diplom- und Magisterstudium ist weitgehend abgeschafft und wurde durch ein Studium in zwei Zyklen mit Bachelor- und Masterabschluss ersetzt.

Während die Studierenden früher vergleichsweise wenige Scheine machen mussten und dadurch viele Wahl- und Vertiefungsmöglichkeiten hatten, gilt es heute vor allem, "Leistungspunkte" zu sammeln und möglichst viele Veranstaltungen zu besuchen. Die Universitäten wurden verschult.

Der Ansturm auf die Universitäten durch die Studienanfänger - in diesem Jahr meldeten sich mit 500.000 zehn Prozent mehr an als im Vorjahr - wird vor allem darauf zurückgeführt, dass es seit diesem Jahr keine Wehrpflicht mehr gibt. Außerdem werden aufgrund der Verkürzung der Schulzeit bis 2016 in zehn Bundesländern zu einem bestimmten Zeitpunkt zwei Jahrgänge gleichzeitig Abitur machen und an die Unis drängen.

Aber eigene Schwerpunkte setzen? Nach Interessen studieren und nebenher arbeiten, um herauszufinden, wohin es später gehen soll? Davon kann Tanja seit den Bologna-Reformen (siehe Kasten) nur träumen. Sie wird am Bildungsstreik teilnehmen, weil ihr nicht nur an der Schule, sondern auch an der Uni immer vorgeschrieben wurde, was sie wie zu lernen hat.

Ein paar Schritte weiter. Vorm Sprechzimmer eines Professors wartet eine junge Frau. Ihre Augen versteckt sie hinter einem langen Pony. Linde ist 19, und sie hat gerade begonnen, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch zu studieren. "Bis jetzt macht's noch keinen Spaß", meint sie. Sie glaubt, die Dozenten sind überlastet und nicht bei der Sache.

Kohle von Mama und Papa

Hinzu kommt, dass sie sich die 600 Euro monatlich, mit denen sie auskommt, selbst verdienen muss. Bis jetzt hat sie noch niemanden kennen gelernt, der das auch so macht. Die meisten um sie herum bekommen 800 Euro und mehr, und zwar von Mama und Papa. Sie wird nicht beim Bildungsstreik mitmachen, denn dazu hat sie bei 26 Stunden Unterricht, 20 Stunden Nachbereitung und dem Brotjob keine Zeit.

Noch ein paar Schritte weiter geht gerade eine Einführung in die Literaturwissenschaft zu Ende. Die Leute mussten auf den Fensterbänken sitzen. Hans Richard Brittnacher ist Dozent, er bietet 16 Semesterwochenstunden an, also acht Veranstaltungen pro Woche, die neben der Forschungsarbeit, den Sitzungen und Sprechstunden vor- und nachbereitet sein wollen.

Am Ende des Semesters fallen durchschnittlich 270 Klausuren und 150 Hausarbeiten an, die er korrigieren muss. Brittnacher hat Angst vorm nächsten Jahr, denn dann machen auch in Berlin zwei Jahrgänge gleichzeitig Abitur.

Wen man auf den Fluren der Freien Universität auch anspricht: Einen Studierenden, der begeistert oder wenigstens gern studiert, wird man nicht finden. Die einen berichten von Leistungsdruck. Andere sind ganz froh, dass sie der hohe Numerus clausus gezwungen hat, vorm Studium ein Freies Soziales Jahr zu machen. Andere sagen, sie wollen gar nicht mit 22 fertig sein, denn mit 22 in den Beruf zu gehen können sie sich nicht vorstellen.

Fast niemand schimpft auf den Ansturm der Studienanfänger oder Überfüllung, denn auch an der FU gibt es in diesem Herbst beinahe doppelt so viele "Erstis" wie im letzten. Alle aber schimpfen auf die Bologna-Reformen, die, wie sie finden, die Unis kaputt gemacht haben.

Zwei Hauptziele von Bologna waren es, die Studierenden für den Job zu rüsten und sozial Schwachen ein Korsett zur Verfügung zu stellen, das sie leichter durch die Uni bringt. Beides hat nicht funktioniert.

Hinzu kommt: Schon zum zweiten Mal nach 2006 stellte die Shell-Studie im vergangenen Jahr fest: Die Jugend ist vor allem verunsichert und pragmatisch. Und immer wieder bekommt man zu lesen, Deutschlands Studierende seien leidensfähig, sie seien traurige Spießer, die sich vor allem durchwurschteln.

Tendenz: steigend

Der zweite Tag: In Kassel befindet sich eine Hochschule, die einmal auf 12.000 Studierende und 2.000 Studienanfänger eingerichtet war und nun mehr als 20.000 Studierende und fast 5.000 Studienanfänger unterzubringen muss - Tendenz, wie überall, steigend. Zum Semesterbeginn wurden manche Vorlesungen und Seminare in Container und Kinosäle verlegt.

Auf dem Campus kündet eine große Baustelle davon, dass die Zeichen der Zeit, wenn auch etwas spät, verstanden wurden - selbst an die Mensa wird zum Semesterende angebaut werden. Christin Eisenbrandt vom Freien Zusammenschluss Studierender (FZS) und Sebastian Geiger vom Allgemeinen Studierendenausschuss (Asta) in Kassel überschlagen sich fast, als sie von ihrer Arbeit berichten.

Der neue Ansturm auf die Unis, bringt das Fass, meinen sie, nun zum Überlaufen. Einerseits wird Effizienz gefordert, andererseits ist es unmöglich, effizient zu studieren, wenn selbst in den Tutorien, die als Lernbegleitung durch studentische Hilfskräfte und Doktoranden in kleinen Gruppen gedacht sind, 60 Personen sitzen.

Sie berichten davon, dass die Studenten gegeneinander ausgespielt werden. "Wenn überall Teilnehmerlisten für Lehrveranstaltungen aushängen, auf denen sich nicht alle eintragen können, dann kann doch nur der Stärkere gewinnen", sagt Sebastian Geiger.

So sehen das auch Yvonne und Martha in der langen Schlange vor der Essensausgabe. Beide sind 19 und angehende Deutschlehrerinnen. Sie wissen noch, dass das Studium lange Jahre von vielen als Lebensphase betrachtet wurde. Für sie ist die Uni nur noch ein notwendiges Übel, um zum guten Job zu kommen. "Traurige Streber?", fragen sie. "Wir werden ja dazu gezwungen!" Gleich müssen sie zu einer Kirche, in die ihr Seminar verlegt wurde.

Lehrninhalte wurden nicht reformiert

Das Erste, was Professor Jürgen Otto in der großen, zugigen Kasseler Auferstehungskirche in seiner Einführung in die Entwicklungspsychologie von seinen Studierenden wissen will: "Ist Ihnen kalt? Beim letzten Mal war nicht gut geheizt. Ich hoffe, es ist diesmal angenehmer für Sie." Auf den Holzbänken sitzen hundert Lernwillige, lesen in dicken Romanen und nesteln an ihren Handys herum.

Nicht, dass es nicht interessant wäre, was der da vorn zu sagen hat, mögen sie denken. Aber der Sound ist so schlecht. Draußen scheint die Sonne. Und was habe ich davon, wenn ich weiß, wie man Zweijährige beim Spiel besser beobachtet, wo ich doch Teenager unterrichten will? Mag sein, dass Bologna viel geändert hat an den Lernbedingungen. An den Lerninhalten hat die Reform wenig gerührt.

Der dritte Tag: Es ist Bildungsstreik. Vorm Roten Rathaus in Berlin haben sich ungefähr 2.500 Studierende und Schüler versammelt, etwa halb so viele wie erwartet. Anders als 2009, als viele Bundesländer erfolgreich qua Streik gezwungen wurden, die Studiengebühren abzuschaffen, sind die Themen diesmal nicht so griffig.

Auch hat sich in den letzten beiden Jahren wenig an den Studienbedingungen geändert. Bologna ist zum Status quo geworden. Nur wenige können sich noch erinnern, wie man früher studiert hat. Und außerdem ist es kalt, eiskalt sogar.

Die Schüler und Studenten, die trotzdem gekommen sind, scheinen ungebrochen gut gelaunt und angriffslustig. Sie demonstrieren gegen "Turboabi" und "Bildungsklau". Ein Transparent fordert: "Egalität statt Elite". Der junge Mann, der es hält, heißt Stephan und beschwert sich. "Bei all dem Stress haben Migrantenkinder heute noch schlechtere Chancen als früher."

Auf einem anderen Transparent steht: "Für noch infantilere Anwesenheitskontrollen - wir fordern den Fingerabdruck." Die junge Frau mit dickem Schal und dicker Mütze, die es hält, will Politiklehrerin werden. "Erstes Semester - erste Krisen", sagt auch Alex. "Aber ich lass mir mein schönes Studentenleben nicht nehmen", fügt sie trotzig an.

Es geht ums Lernen

Es geht bei dieser Demo nicht nur um die Forderung nach mehr Geld für die Unis. Es geht bei dieser Demo auch darum, dass das Lernen wieder Spaß machen soll.

Weiter vorn läuft ein bisschen Musik. Es ist ein Demo-Klassiker, der Song "Müssen nur wollen" von der Berliner Band Wir sind Helden. Judith Holofernes' Stimme erfüllt die ganze Straße: "Das ist das Land der begrenzten Unmöglichkeiten, wir können Pferde ohne Beine rückwärts reiten. Wir können alles, was zu eng ist, mit dem Schlagbohrer weiten."

Alex singt mit, Wort für Wort. Auch sie ist keine traurige Streberin. Denn sie weiß, dass es auch anders ginge.

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