Urteil zu Israels Justizreform: Den Schaden hätte die Demokratie

Israels Oberstes Gericht verwirft den Kern der umstrittenen Justizreform. Während Premier Netanjahu schweigt, üben seine Minister Kritik. Und nun?

Die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs sitzen in einem Saal, in der Mitte die Präsidentin Esther Hayut

„Der Oberste Gerichtshof hat heute seine Pflicht zum Schutz der israelischen Bürger erfüllt“, erklärte Israels Oppositionspolitiker Jair Lapid Foto: Menahem Kahana/imago

BERLIN taz | Heute scheint es eine Ewigkeit her zu sein, dass Hunderttausende Israelis Autobahnen blockierten, mit wehenden israelischen Fahnen gegen den geplanten Staatsumbau protestierten und „Demokratie“ skandierten. Seit dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober und dem daraufhin erklärten Krieg Israels gegen die Terrorgruppe ist die Protestbewegung in ihrer früheren Form zum Erliegen gekommen. Das Urteil, das das Oberste Gericht am Montag fällte, ist so eine denkwürdige Mahnung, die die Israelis daran erinnert, was einst das ganze Land bewegte.

Das Oberste Gericht entschied, dass eine von der Knesset verabschiedete Änderung eines Grundgesetzes nicht rechtmäßig sei, nämlich die Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel. Vor der Änderung dieser Klausel hatte das Gericht die Möglichkeit, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern als „unangemessen“ einzustufen. Dabei geht es nicht nur um mögliche Gesetzesverstöße, sondern auch um Personalentscheidungen, die das Gericht für ungültig erklären kann, etwa wegen laufender Korruptionsverfahren oder Disziplinarstrafen.

Die Regierung hatte die Gesetzesänderung kurz vor der Sommerpause im Juli vergangenen Jahres durchgedrückt. Sie blieb der erste und bislang einzige Teil der ursprünglich angekündigten, großangelegten „Justizreform“. Nun hat das Oberste Gericht sie gekippt.

Acht von 15 Rich­te­r*in­nen urteilten, dass die Gesetzesänderung nicht rechtens sei. „Das Gericht befand, dass die Änderung den Kern von Israels Wesen als demokratischen Staat einen schweren und noch nie dagewesenen Schaden zufügt“, hieß es zur Begründung. Die Gerichtsentscheidung befasst sich außerdem mit der grundlegenden Frage, ob das Gericht überhaupt die Autorität hat, vom Parlament erlassene Grundgesetze oder Änderungen dieser Gesetze niederzuschlagen. Diese Frage bejahten 13 der 15 Richter*innen.

Die Reaktionen auf das Urteil spalten das Land. Doch die Entscheidung, ob es zu einer Verfassungskrise kommt, ist noch nicht gefallen. Dabei hatten viele Israelis die Gerichtsentscheidung im Vorfeld als Scheitelpunkt betrachtet, an dem sich genau dies entscheiden würde. Die Opposition reagierte eindeutig. Der zentristische Politiker Jair Lapid begrüßte das Urteil: „Der Oberste Gerichtshof hat heute seine Pflicht zum Schutz der israelischen Bürger erfüllt“, schrieb er auf X, vormals Twitter. Auch Benny Gantz, der vor drei Monaten dem Notstandskabinett beigetreten war, drängte darauf, dass das Urteil akzeptiert werden muss.

Minister*in­nen werfen dem Gericht vor, das Land zu spalten

Aus dem regulären rechts-religiösen Kabinett hingegen kamen zwar harsche Reaktionen, jedoch keine eindeutige Ankündigung, das Urteil nicht akzeptieren zu wollen. Justizminister Yariv Levin, der Architekt der Pläne zum Staatsumbau, warf den Rich­te­r*in­nen des Obersten Gerichtshofs vor, „alle Macht, die eigentlich auf die drei staatlichen Gewalten verteilt sein müsste, an sich zu nehmen“. Er fügte hinzu, dass das Urteil „uns nicht aufhalten würde“: Was genau dies bedeutet, blieb unklar, doch die Äußerung stellt die Möglichkeit in den Raum, dass es zu einer Eskalation zwischen der Regierung und dem Obersten Gericht kommen könnte.

Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Ita­mar Ben-Gvir, nannte die Entscheidung ein „gefährliches und antidemokratisches Ereignis“. Geschlossen warfen die Mi­nis­te­r*in­nen dem Gericht vor, ausgerechnet zu dieser Zeit, in der Israel Krieg führe, das Land zu spalten und Israels Kriegsanstrengungen zu untergraben.

Von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst kam zunächst keine Reaktion. Seine Likud-Partei erklärte jedoch, dass die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes eine „gegen den Willen des Volkes zur Einheit, insbesondere in Kriegszeiten“ sei.

Der Krieg spielt Netanjahu in die Hände

Nach Ansicht der israelischen Rechtswissenschaftlerin Tamar Hostovsky-Brandes war die Annahme, dass die Verfassungskrise am Tag der Gerichtsentscheidung ihren Höhepunkt erreichen würde, von Anfang an falsch: „Hier geht es nicht um einen Befehl an die Regierung, etwas zu tun oder zu lassen. Die Regierung muss nichts erklären.“ Vielmehr bleibt abzuwarten, ob sich die Regierung an die Autorität des Gerichts halten wird, wenn dieses Regierungsentscheidungen auf der Grundlage der Angemessenheitsklausel für nichtig erklärt.

In gewisser Weise spielt der Krieg Netanjahu auch in dieser Hinsicht in die Hände: Vor dem 7. Oktober hätte der politische Druck Netanjahu wahrscheinlich dazu veranlasst, eine klare Stellungnahme zum Gerichtsurteil abzugeben. In der gegenwärtigen Kriegssituation kann die Antwort auf die Frage, wie es mit Israels Rechtskrise weitergeht, jedoch einfach verschoben werden – möglicherweise bis nach dem Krieg, wann auch immer das sein mag. Hostovsky-Brandes hingegen hofft, dass die erlahmte Protestbewegung nun wieder lauter wird.

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