Vor dem G20-Gipfel: Ein Plan B ist nötig

Beim G20-Gipfel wird es keine Lösungen für die globalen Krisen geben. Im Weg steht das Konkurrenzdenken von Nationalstaaten und Unternehmen.

Ein Mädchen schreibt in ein Heft, sie sitzt mit einem Jungen auf einer Matratze auf der Straße

Kinder von Farmarbeitern lernen auf der Straße, nachdem ihr Heim überflutet wurde. Der Yamunda Fluß in Neu Delhi trat vor einem Monat über die Ufer Foto: Altaf Qadri/ap

Unter der Überschrift „One Earth, One Family, One Future“ treffen sich am Wochenende die mächtigsten Politiker der Welt in Delhi zum G20-Gipfel. Der Kontrast zwischen dem Motto und der dysfunktionalen Weltpolitik von heute wäre komisch, wenn er nicht so tragisch wäre. Denn die Menschheit scheitert systematisch an ihren größten Herausforderungen: der Abwendung des Klimakollapses, der Sicherung menschenwürdigen Lebens für alle, einem humanen Umgang mit Migration, der Eindämmung militärischer Konflikte oder – neuester Eintrag auf der To-do-Liste – sicherer künstlicher Intelligenz.

Bei keinem dieser Themen ist das Hindernis ein Mangel an technischem Wissen oder Ressourcen. Was im Weg steht, ist eine doppelte Konkurrenz, die tief in unserer Politik- und Wirtschaftsordnung verankert ist: zwischen Nationalstaaten auf der einen Seite und zwischen profitorientierten Unternehmen auf der anderen.

Einige Beispiele: Wir verfügen über das medizinische Wissen, um Hunderten Millionen Menschen weltweit gesundheitlich zu helfen – mit Generika, Impfungen, einfachen medizinischen Materialien. Aber das passiert nicht. Kommerzielle Erwägungen und komplizierte Patentrechte stehen im Weg. Wir haben schon lange die Technologie, um einen katastrophalen Klimakollaps zu vermeiden. Auch das passiert nicht. Zwietracht auf Klimagipfeln, ökonomische Konkurrenz sowie die Interessen der Ölmultis blockieren unsere Bemühungen.

Die Risiken künstlicher Intelligenz müssten durch schlagkräftige öffentliche Kontrolle eingedämmt werden. Wiederum passiert zu wenig. Der militärische Mehrwert digitaler Technologien ist zu groß, und Tech-Giganten können sich im Rennen um eine Marktführerschaft keine Atempause erlauben.

Die Liste ließe sich fortsetzen, aber das Muster ist klar. Konkurrenz unter Ländern und unter gewinnorientierten Firmen hält uns strukturell davon ab, kollektive Herausforderungen effektiv anzugehen. Politischen und ökonomischen Wettbewerb hat es immer schon gegeben. Was neu ist, ist, dass mit ihm unsere Zukunft auf dem Spiel steht.

Unternehmensrationalitäten sind nur so lange legitim, wie sie die Zukunft nicht unterminieren

Globale Führungspersönlichkeiten, in Unternehmen wie in der Politik, treten in hochtrabenden Reden gern für Menschenwürde, Gleichberechtigung, den Planeten und technischen Fortschritt für alle ein. Aber immer kommen „politische Realitäten“ oder unternehmerische Anreize in die Quere. Es ist die Struktur von Politik und Wirtschaft, die Interessengegensätze systematisch akzentuiert.

Es ist eine Illusion zu glauben, dass unsere gegenwärtige wirtschaftliche und politische Weltordnung uns sicher durch dieses Jahrhundert führen wird. Schon jetzt verfängt sich nationale Politik in Abwärtsspiralen, wo man auch hinschaut: zunehmende Ungleichheit, wachsende Unzufriedenheit, anschwellender Autoritarismus, schwelende ethnische Konflikte, politische Debatten, die eher von wütenden Textfetzen als von durchdachten Argumenten dominiert werden.

Einfach festhalten an der gegenwärtigen Ordnung ist keine Option. Wenn wir sie nicht bewusst durch eine alternative Form politischer Organisation ersetzen, wird sie ihren Defekten schlicht erliegen. Während die G20-Staats- und -Regierungschefs sich wieder einmal schwertun dürften, überzeugende Lösungen zu liefern, ist es an der Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, wie Politik und wirtschaftliche Angelegenheiten der Menschheit besser organisiert werden können.

Die Antwort ist nicht eine kommunistische Weltdiktatur. Nationale politische Differenzen sind in Ordnung, zum Beispiel beim Thema Bildung. Sie sind es aber nicht, wenn die einzigen praktikablen Antworten auf – zum Beispiel – Umweltprobleme global sind. Nationale Selbstbestimmung wird unhaltbar, wenn die Wettbewerbsdynamik, die sie erzeugt, unsere gemeinsame Zukunft ernsthaft gefährdet.

Vorbild EU?

Es braucht Kreativität und Experimentierfreude, um demokratische Teilhabe mit globaler politischer Schlagkraft zu verbinden. Vielleicht kann – trotz ihres Mangels an Popularität – die EU eine Inspirationsquelle sein? Sie kombiniert verbindliche Absprachen wo nötig mit nationalen Sonderwegen wo möglich. Könnte eine UNO 2.0 so etwas auch? Das Gleiche gilt in der Wirtschaft. Wettbewerb zwischen Bäckereien ist prima, wenn es leckere Brötchen zum Frühstück geben soll. Aber er ist gefährlich, wenn sichere KI das Ziel ist. Unternehmensrationalitäten sind nur so lange legitim, wie sie die Zukunft von Gesellschaften nicht unterminieren. Der Ausgangspunkt muss eine Form kollektiver Souveränität über zukunftsentscheidende Technologien sein.

Aktuell haben wir keine Alternative zu bestehenden Strukturen. Und es bleibt wichtig, Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Respekt und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Trotzdem hat Politik, wie wir sie kennen – einschließlich all ihrer Errungenschaften – eine begrenzte Haltbarkeit. Es wäre fahrlässig, nicht darüber nachzudenken, wie eine Zukunftsordnung aussehen könnte, die die Schattenseiten unternehmerischer und nationaler Konkurrenz ausschaltet.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Zu viele Debatten sind einem illusorischen Erhalt des Status quo verhaftet. Dabei sollte das Pferd auch von der anderen Seite aufgezäumt werden: Wie sähen politische und wirtschaftliche Strukturen aus, die leisten, was wir brauchen und uns erhoffen – auch auf globalem Niveau?

Die Frage ist nicht, ob wir in den kommenden Jahrzehnten grundlegende wirtschaftliche und politische Veränderungen erleben werden. Das werden wir, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist, ob wir, wenn sich die aktuelle Ordnung langsam zersetzt, einen Plan B in der Tasche haben. Wenn wir das G20-Motto „One Earth, One Family, One Future“ nehmen, ist es an der Zeit, zu skizzieren, wie dieser Plan B aussehen könnte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.