Vor der Präsidentschaftswahl in Russland: Der Wackelkandidat des Friedens

Dank Boris Nadeschdin reden plötzlich Tausende Rus­s*in­nen von Krieg und Frieden in der Ukraine. Er will Putin die Stirn bieten. Wer ist der Mann?

Menschen im Kampagnenbüro von Nadeschdin, an der Wand hängt ein Plakat mit dem Konterfei des Kandidaten

Nadeschdin spricht von Verhandlungen mit der Ukraine, schweigt aber vom sofortigen Abzug russischer Truppen Foto: Anatoly Maltsev/epa

MOSKAU taz | „Wenigstens so“, „wenigstens etwas tun“, „wenigstens einer, der sich traut und offen gegen den Krieg ist“: Die Menschen stehen stundenlang in der Kälte, quer durch Russland. Sie scherzen, sie diskutieren, und ihre Sätze klingen ähnlich, egal, ob am Ural in Tscheljabinsk, in Jakutsk bei knapp minus 50 Grad oder in Moskau. Selbst im georgischen Tbilissi oder in Belgrad in Serbien. Sie sagen „Putin muss weg“, „der Krieg ist ein Fehler, wir sind gegen ihn“.

Solche Sätze wurden lange nicht mehr in der russischen Öffentlichkeit gesagt. Russlands repressive Gesetze sorgen dafür, dass jegliche Kritik am russischen Überfall auf die Ukraine schnell als „Diskreditierung der russischen Armee“ geahndet wird und das Wort „Krieg“ verboten ist. Warum also jetzt?

Es liegt an Boris Nadeschdin, der ein „Wunder“ vollbracht hat, wie er selbst es mit einer gewissen Großspurigkeit nennt. Für den untersetzten 60-Jährigen „ohne Charisma“ – auch das seine eigene Beschreibung – stellen sich derzeit Tausende von Menschen in die Schlange, weil sie Hoffnung hegen.

Die Präsidentschaftswahl vom 15. bis 17. März ist eine Art Volksbefragung mit festgelegtem Ausgang. Nadeschdin will dabei dem russischen Präsidenten Wladimir Putin dennoch die Stirn bieten. Die erste Hürde dafür hat der liberal-patriotische Lokalpolitiker aus einem Vorort von Moskau bereits genommen: Er darf Unterschriften für seine Kandidatur sammeln. Die Fernsehjournalistin Jekaterina Dunzowa, die sich ähnlich äußerte, durfte nicht einmal das. „Sie sind noch jung, Sie haben noch alles vor sich“, hatte die Wahlkommissionsvorsitzende Ella Pamfilowa gesagt und Dunzowas Absichten im Dezember zunichtegemacht.

Vom Hofnarren zum Hoffnungsträger

Jung und unbekannt ist Nadesch­din nicht. Seit den 1990ern macht er Politik, war einst Berater des 2015 ermordeten liberalen Politikers Boris Nemzow und stand auch an der Seite des loyalen Sergei Kirijenko, heute mächtiger Chef über die russische Innenpolitik im Kreml. Er macht seit Jahrzehnten Lokalpolitik, saß bis 2003 für die liberale Partei „Union der Rechten Kräfte“ in der Staatsduma, versuchte sich 2018 bei der Gouverneurswahl im Moskauer Umland und landete auf dem letzten Platz.

Vor der Präsidentschaftswahl 2012 wollte er noch zur Vertrauensperson Putins bestimmt werden. Heute sagt er, Putin müsse seinen Posten räumen, und nennt den Krieg in der Ukraine – er sagt gesetzeskonform „militärische Spezialoperation“ – einen „fatalen Fehler Putins“.

Jahrelang gab Nadeschdin den Hofnarren, ließ sich von staatlichen Fernsehsendern einladen und dort für seine kritischen Positionen niederbrüllen. Er ging trotzdem immer wieder hin – bis er in einer Sendung im Mai 2023 forderte, Putin auszutauschen.

Nun redet er vor allem in den Youtube-Sendungen exilierter russischer Journalist*innen, die der russische Staat vielfach zu „ausländischen Agenten“ abgestempelt hat. Nadeschdin erzählt ihnen, dass er als Präsident alle Politgefangenen freilassen, Verhandlungen mit der Ukraine führen und die Mobilisierung einstellen werde.

Vom sofortigen Abzug russischer Truppen spricht er nicht. Stattdessen wiederholt er gern, dass er „russischer Patriot“ sei und sich an die Verfassung seines Landes halten werde. Darin gelten die von Russland besetzten ukrainischen Gebiete, selbst nur die teils eroberten, als russisches Territorium. „Ich fühle die Verantwortung für Millionen von Menschen“, sagt Nadesch­din in seinen Interviews.

Die geforderten 100.000 Unterschriften hat er bereits gesammelt. Wohl auch deshalb selbst für ihn so unerwartet schnell, weil russische Op­po­si­ti­ons­po­li­ti­ke­r*in­nen aus dem Exil – von den Mit­strei­te­r*in­nen Alexei Nawalnys bis hin zum einstigen Ölmagnaten Michail Chodorkowski – sich für Nadeschdin ausgesprochen haben. Nicht weil sie ihn und seine Ansichten überzeugend finden, sondern weil sie in seiner Kampagne einen legalen Protest gegen Putins Regime sehen. Die Unterschrift für Nadeschdin ist eine Stimme gegen Putin.

Hauptsache, Opposition gegen Putin

Indem sie in der Kälte anstehen, wehren sich viele Rus­s*in­nen gegen den politischen Stillstand. Es zeigt ihnen, dass sie mit ihrer kremlkritischen Meinung nicht allein sind. Nadesch­din selbst interessiert kaum jemanden. „Da könnte auch ein Meerschweinchen antreten, Hauptsache, es ist nicht Putin“, spottet einer.

Dass Nadeschdin die nächste Hürde packt, als Kandidat registriert wird, zweifeln die meisten an, die sich für den 60-Jährigen einsetzen. Zu oft haben sie erlebt, wie die Wahlkommission die gesammelten Unterschriften wegen Formfehlern ablehnt. Einige halten Nadeschdin auch für einen Testballon des Kremls, um ein Gefühl für die Proteststimmung kurz vor der „Wahl“ zu bekommen. Nadeschdin selbst sagt in gewohnt selbstgefälligem Ton: „Jetzt hat eine echte Politik angefangen.“

Auf die Frage, was er tun werde, wenn die Regierung doch zu ihrem gängigen Knüppel greift und die Unterschriften ablehnt, bleibt Nadeschdin derweil ungewohnt stumm.

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