Wer ihr seid – und wer es euch sagt: Was ist deutsch?

Eine Identität, die nur noch als Nichtidentität möglich ist, Verfassungspatriotismus oder Gartenzwerg vorm Haus. Neue Antworten anlässlich der Buchmesse.

ein Gartenzwerg mit Deutschland-Zipfelmütze und DFB-Trikot zwischen rotem Weinlaub

Der feuchte Traum vieler Deutscher Foto: dpa

Befinden wir (bitte wer?) uns in einer Identitätskrise? Zweifel sind unangebracht: Handelt es sich doch um die politisch-kulturelle Frage dieses Frühjahrs. So stellt das Philosophie Magazin fest, dass sie „wieder da ist“: die Frage nach der Identität. So wirbt sogar eine Geografiezeitschrift mit dem Slogan „Mein Lebenslauf. Mein Ich“. Mehr noch: Kein Geringerer als der Bundesinnenminister, ein eher liberaler CDU-Politiker, gab ausweislich des Spiegels zu Protokoll: „Wir wissen nicht mehr genau“, so Thomas de Maizière, „wer wir sind und wer wir sein wollen“.

Andere drücken das härter aus: In ihrem neuen Programm fordert die AfD, dass in der Erinnerungskultur „die aktuelle Verengung auf die NS-Zeit“ zugunsten einer Geschichtsbetrachtung aufzubrechen sei, „die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte umfasst“. Zuletzt fragte der Historiker Lorenz Jäger in einer Biografie über Walter Benjamin allen Ernstes: „In welchem Sinne war Benjamin deutsch, vom Bildungsgang und der Staatsangehörigkeit einmal abgesehen?“, um damit kundzutun, dass „deutsch zu sein“ mehr und anderes ist oder doch wenigstens sein soll.

All das in einem Land, das inzwischen den größten Anteil an Immigranten unter allen europäischen Staaten aufweist. Es geht, um einen zum Schlagwort verkommenen sozialwissenschaftlichen Begriff zu verwenden, um die „Identität“, bescheidener gesagt, um das Selbstverständnis der Deutschen, oder doch mindestens um das Selbstverständnis jenes überwiegenden Teils der hiesigen Wohnbevölkerung, die einen deutschen Pass hat.

Indes: Die Lebenserfahrung lehrt, dass, wer sich dem Zeitgeist anvermählt, schnell verwitwet ist. Ist also die Frage nach dem Wesen „Deutschlands“ lediglich eine solche Mode des Zeitgeistes? Oder hat sie wirklich gute Gründe? So äußerte der ehemalige Außenminister Fischer kürzlich in der ihm eigenen Art die Sorge, dass hierzulande bald wieder eine Debatte darüber entstehen könne, ob Deutschland überhaupt noch zum Westen gehöre.

So weit ist es gewiss noch nicht. Aber: Nach Donald Trumps Kritik an der Nato sowie der Ausrufung eines „postwestlichen“ Zeitalters durch den russischen Außenminister Lawrow wird gleichwohl wieder diskutiert, was genau denn nun „deutsch“ sei. Immerhin gelten 5 Prozent, also etwa 4 Millionen der hiesigen Bevölkerung als Muslime, unter ihnen etwa 3 Millionen türkischstämmige Bürger, die derzeit gebannt und zum Teil aggressiv auf den türkischen Wahlkampf blicken; von Schulklassen in großen Städten, wo der Anteil ethnisch deutscher Kinder von Jahr zu Jahr sinkt, gar nicht zu reden.

Weltbürgerlichkeit und Nationalismus

Die Frage selbst ist freilich so alt wie das deutschsprachige ­Bildungsbürgertum, also mindestens 250 Jahre. Drei Neuerscheinungen wollen dem Pu­blikum dabei helfen, eigene Antworten zu finden. So hat der Heidelberger Germanist Dieter Borchmeyer, ein Spezialist für Werk und Leben Richard Wagners und Thomas Manns, soeben ein tausendseitiges flüssig geschriebenes Buch unter dem Titel „Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst“ vorgelegt – Summe eines Lebenswerks und Standortbestimmung in einem.

Will man Borchmeyers panoramatisches Buch als eine Form der Epik bezeichnen, so gehört das nur 100 Seiten umfassende Bändchen des Wuppertaler Philosophen Peter Trawny, der seinem Essay denselben Titel gibt, der tragischen Gattung an. Als Satyrspiel wird man schließlich, um im Bilde zu bleiben, die von Gerhard Waldherr verfasste ­Reportagensammlung bezeichnen dürfen, die den lakonischen Titel „Deutschkunde“ trägt.

Borchmeyer, dessen Buch ein ganzes Studium der Germanistik ersetzt, legt seine Karten gleich zu Beginn auf den Tisch. Solle doch Deutschland „eine Macht der Mitte sein, indem es Nationalität und Europaidee im Gleichgewicht hält und seine europäisch-kosmopolitische Moral ohne Überlegenheitsgebärde auf dem Fundament der Gleichheit gegenüber den Nachbarstaaten wie auch der Welt­gemeinschaft zur Geltung bringt.“

Dies Bekenntnis untermauert er mit bestens lesbaren Darstellungen weltbürgerlicher Autoren wie Goethe, Schiller und Hölderlin hier, aber eben auch weltanschaulicher Nationalisten wie Richard Wagner, Ernst Moritz Arndt oder Julius Langbehn dort. Dass er darüber hi­naus nicht nur Nietzsche in seiner treffsicheren und beißenden Kritik am deutschen Nationalismus präsentiert sowie einen zu Unrecht vergessenen exzellenten Autor wie Erich von Kahler wieder in Erinnerung ruft, dafür kann man Borchmeyer nur danken.

Die Juden des neuesten Europa

Nicht zuletzt gilt sein besonderes Augenmerk dem „jüdisch-deutschen“ Verhältnis, dem er ein als eigene Studie lesbares Kapitel gewidmet hat. Hier erfährt man nicht nur, wie sehr sich Dichter und Philosophinnen wie Heinrich Heine, Hermann Cohen oder Margarete Susman im 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende der deutschen Kultur verpflichtet sahen, sondern auch, dass Na­tionalisten wie Fichte oder Ernst Moritz Arndt die von ihnen erträumte deutsche Nation dem Judentum nachempfunden haben.

So schrieb Ernst Moritz Arndt – dessen Namen die Greifswalder Universität bisher erfolglos tilgen wollte – in seiner Schrift „Geist der Zeit“: „Man hat uns“, so Arndt in einer erstaunlichen Wendung, „Weltmenschen, allgemeine Philosophen, Kosmopoliten genannt und Wunder gemeint, wie sehr man uns mit diesem Namen lobte. Man hätte uns die Juden des neuesten Europa nennen sollen, denn wie die Juden sind wir umher verstreuet und ihnen fast gleich geachtet; nur daß die Juden in ihrer ewigen Physiognomie noch mehr Stärke und Charakter verraten als“, so Arndt im Jahre 1806, „die jetzigen Deutschen.“

Vor dem Hintergrund solcher Gedanken lässt sich der führend von Deutschen an den europäischen Juden begangene Massenmord, die Schoah, als nach außen gewandten mörderischen Selbsthass „der Deutschen“ auf sich selbst verstehen. Tatsächlich hat die überwiegende Anzahl der in deutschen Ländern lebenden Juden seit dem 19. Jahrhundert den Versuch unternommen, Teil der in diesen Ländern existierenden bürgerlichen Klasse zu werden.

Dabei haben sie sich, wie die in Washington wirkende Historikerin Simone Lässig schon vor Jahren gezeigt hat, um den Erwerb symbolischen Kapitals, eben von Bildung, akademischen Titeln und einem vor allem protestantischen Habitus bemüht. Von den Krisen der Gesellschaft von Kaiserreich und Weimarer Republik beeindruckt, haben sich nicht wenige Angehörige einer zweiten Generation deutscher Juden radikal-reformistischem oder gar revolutionärem Denken zugewandt, dabei den Internationalismus neu entdeckt und sich somit einer „roten Assimilation“ (Karin Hartewig) befleißigt.

Unter Schmerzen zurück

Freilich: Keineswegs alle Angehörigen dieser Ende des 19. Jahrhunderts geborenen deutschen Juden organisierten sich unmittelbar politisch: Nicht wenige drückten ihre Kritik an der antisemitischen und krisenhaften Gesellschaft von Kaiserreich und Weimarer Republik in Kunst und Philosophie sowie einer betont intellektuellen Lebenshaltung aus.

So auch der 1903 geborene, seit 1935 in der Emigration, zunächst in England, dann in den USA lebende Theodor W. ­Adorno, der 1949 unter Schmerzen nach Deutschland, in die Bundesrepublik, nach Frankfurt am Main zurückkehrte. Auf ihn beruft sich im Gegenzug zu Borchmeyer der Wuppertaler Philosoph Peter Trawny, der Heideggers antisemitische „Schwarze Hefte“ herausgegeben und ebenso luzide wie kritisch kommentiert hat.

Unter Berufung auf Adorno will Trawny zeigen, dass „deutsche“ Identität nach dem Holocaust nur noch als „Nicht-Identität“ möglich sei. So trägt sein Essay den merkwürdigen Untertitel „Adornos verratenes Vermächtnis“ – ein Vermächtnis, dem allen Widrigkeiten und allem gegenwärtig herrschenden Konformismus zum Trotz die Treue zu halten sei. Doch worin genau besteht dieses Vermächtnis?

Nach Trawnys Überzeugung darin, dass nach Auschwitz ein Selbstverständnis, eine „Identität“ der Deutschen nur noch als „Nichtidentität“, als tiefgreifende Empfindung eines unheilbaren moralischen Bruchs möglich sei. Aber – darauf ist zurückzukommen – was heißt das genau?

Aber zunächst: Will man nach diesem heroisch-tragischen Eingeständnis wirklich noch wissen, wie viele Gartenzwerge und Adlige, welche Formen der Großforschung, wie viele Gefängnisinsassen und wie viele Formen der Schweinezucht es heute in diesem Land gibt?

Satyrspiel und Komödie hatten seit jeher die Funktion, Gespreizt-Erhabenes auf den nüchternen Boden der Tatsachen zurückzuholen und so der Lächerlichkeit preiszugeben; das sah schon Goethe so, der 1790 in seinen „Venezianischen Epigrammen“ schrieb : „Ist’s denn so großes Geheimnis, was Gott, der Mensch und die Welt sei. Nein, doch niemand mags gern hören, da bleibt es geheim.“

Feindbild: Verfassungspatriotismus

Indes: Bei aller gebotenen Nüchternheit angesichts eines Deutschland, in dem die Anzahl der Sternerestaurants in den letzten 40 Jahren von 1 auf 229 gestiegen ist; bei allem Interesse für die Fankultur des FC Schalke, der Gerhard Waldherr ebenso viel Aufmerksamkeit widmet wie dem Niedergang der Tante-Emma-Läden, wird dennoch gelten, dass sich die normative Frage, was „deutsch“ sein soll, durch derlei Hinweise nicht beantworten lässt. Sogar dann nicht, wenn wir erfahren, dass ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger noch immer 50 Euro mehr erhält als ein alleinstehender Flüchtling.

Borchmeyer und Trawny beantworten die Frage nach dem Wesen des „Deutschen“ auf radikal entgegengesetzte Weise, kommen aber dabei beide nicht ohne ein ihnen gemeinsames Feindbild, nämlich den von ­Jürgen Habermas proklamierten „Verfassungspatriotismus“ aus.

In diesem Zusammenhang kritisiert Trawny nicht nur die vermeintliche Abgehobenheit eines kosmopolitischen Lebensstils, sondern geht sogar so weit, der Denkschule von Jürgen Habermas akademischen Karrierismus und das Entstehen jenes Vakuums zuzuschreiben, in das der „ungebildete Stolz der ­heimlichen Rassisten“ hineinstoßen konnte. Nationalbewusstsein, das zu betonen werden die ansonsten so gegensätzlichen Autoren Borchmeyer und Trawny nicht müde, müsse mehr sein als nur eine vernünftig begründete Einsicht in akzeptable Normen des Zusammenlebens.

Für Personen, die sich genau dem verpflichtet sehen und deshalb klassisches Nationalbewusstsein ablehnen, findet Borchmeyer den der Süßwarenindustrie entlehnten Begriff des „Edelbitterintellektuellen“. Mit diesem Etikett bezeichnet er etwa jene, denen beim Singen des Deutschlandliedes noch immer die Zunge am Gaumen ­kleben bleibt.

Trawny wiederum, der die von ihm kritisierten Kosmopoliten als Ideologen der globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft entlarven will, scheut sich nicht einmal, den von Habermas postulierten Verfassungspatriotismus als „Verrat“ – nein, nicht an Deutschland – zu kennzeichnen: „Der politische Streit verliert seine Dynamik, weil die Vernunft jedes Argument betrachtet wie ein Insekt unterm Mikroskop […] Eine solche Betrachtungsweise weiß immer schon zuviel. Sie entlarvt den Anderen als zurückgeblieben. Das aber ist keine Kritik, sondern eine Belehrung. Habermas’ kritische Überwindung von Adorno“, so schließt Trawny, „ist eine Preisgabe des kritischen Anspruchs der Theorie.“

Damit schließt sich Trawny einem gewiss Adorno so fern wie nur möglich stehenden, etwa von Peter Sloterdijk vertretenen „thymotischen“ Programm an, wonach nur leidenschaftlich erregtes Denken und Handeln zu Recht als „politisch“ bezeichnet werden dürfe. Nicht so Adorno: 1969 jedenfalls forderte er in seiner „Erziehung zur ­Mündigkeit“: „Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfasst. Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines ­Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt.“ Ist das nun „deutsch“ oder „kosmopolitisch“?

Die Rede ist vom Menschen

Letztlich geht es um das, was konservativ eingestellte Politikerinnen als „Leitkultur“ bezeichnen, also die Grundlage dessen, was zu einer erfolgreichen „Integration“ führe: die Prinzipien, manche bezeichnen sie als „Werte“, der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes. Das aber ist mit seinem höchsten Prinzip, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – die Rede ist hier vom „Menschen“, also von jedem Menschen, nicht nur von „Deutschen“ –, bereits kosmopolitisch eingestellt.

Auf jeden Fall sind zur Beantwortung der Frage „Was ist deutsch?“ mindestens zwei Ebenen der Analyse strikt zu unterscheiden: erstens „deutsch“ als Eigenschaft einer Kultur, also eines sprachlich zusammengehaltenen Universums symbolischer Formen, wie der Philosoph Ernst Cassirer meinte, sodann – zweitens – als die rechtlich festgelegten Institutionen politischer Willensbildung. Als Schnittmenge beider lässt sich womöglich noch eine Ebene der „politischen Kultur“ erkennen, also jener Haltungen, Meinungen und Überzeugungen, die das Funktionieren des politischen Systems stützen. Dann aber zeigt sich, dass eine essenzialistische Antwort auf die Frage „Was ist deutsch?“ nicht mehr möglich ist.

Dieter Borchmeyer: „Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst“. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017, 1.055 Seiten, 39,95 Euro

Peter Trawny: „Was ist deutsch? Adornos verratenes Vermächtnis“. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017, 107 Seiten, 10 Euro

Gerhard Waldherr: „Deutschkunde“. Kursbuch Edition, Murmann Verlag, Hamburg 2017, 238 Seiten, 30 Euro

Die Literatur des Friedenspreisträgers Navid Kermani, des von Borchmeyer hoch gelobten Schriftstellers Zafer Şenocak, er publizierte 2011 „Deutschsein“, oder, jüngstes Beispiel, der Lutherroman von Feridun Zaimoglu, ist – was denn sonst – „deutsch“; wenngleich nicht im Sinne von Hermann Löns’ Erzählungen aus der Lüneburger Heide, Eduard Mörikes schwäbischen Idyllen, Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ oder Al­fred Döblins Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“.

Die Vielfalt der deutschsprachigen Literatur, um hier nur sie und nicht auch noch – wie Borchmeyer es überzeugend tut – die in deutschen Ländern entstandene Musik zu behandeln, zeigt sofort, dass eine Wesensbestimmung des Deutschen, das über die Sprache hinausgeht, sinnlos ist. Etwas anders ist es um den Bereich der Politik, um Verfassung, um Innen- und Außenpolitik bestellt. Hier sind, wenn man so will, Wesensbestimmungen sehr wohl möglich: nämlich genau so, wie sie in Verfassungen, Gesetzen und außenpolitischen Verträgen urkundlich niedergelegt sind.

Ist also ein „postwestliches“, ein kosmopolitisches, nicht mehr in Blöcken verankertes Deutschland denk- oder gar wünschbar? Würde das ein Aufkündigen oder Abbrechen, gar eine Umkehr von „Deutschlands Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) bedeuten? Schiller und Goethe, die zu zitieren Dieter Borchmeyer nicht müde wird, waren bezüglich der politischen Identität der Deutschen schon immer skeptisch: In den von beiden verantworteten „Xenien“ heißt es: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche vergebens. / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“

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