Der Präsident braucht den Krieg

Bush ist ohne Krieg nicht mehr denkbar. Er kümmert sich auch um nichts anderes mehr

von BERND PICKERT

Am 11. September 2001 bekam seine Präsidentschaft einen Inhalt, mit dem George W. Bush an die Öffentlichkeit treten konnte. Der Präsident von Richters Gnaden, der noch lange nach seinem Einzug ins Weiße Haus nicht recht begriffen zu haben schien, dass er jetzt wirklich Präsident geworden war, und der immer so aussah, als freue er sich darüber ohne Unterlass wie ein kleiner Junge, hatte ein Thema, hinter das er sich zurückziehen konnte.

Das war auch dringend nötig. Denn was hatte Bush vorher schon zuwege gebracht? Immerhin, sein größter Coup, eine Steuerreform, mithin eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, hatte funktioniert. Die republikanische Mehrheit im Senat aber hatte er durch eigene Führungsfehler eingebüßt. Und damit die komfortable Möglichkeit, mit den Mehrheitsführern beider Häuser die Agenda abstimmen zu können.

Die Themen, die er selbst unter dem Schlagwort des „mitfühlenden Konservatismus“ in den Wahlkampf getragen hatte, also insbesondere seine Vorstellungen von Sozial- und Bildungspolitik, schienen ihn jetzt, einmal im Weißen Haus angekommen, deutlich weniger zu interessieren als der pünktliche Start ins Golf-Wochenende.

Bush erweckte den Eindruck, dass da einer, dem schon seit frühester Kindheit immer alle Wege bereitet worden sind, ohne dass er selbst viel dazu tun musste, es einfach unheimlich genoss, nun Präsident geworden zu sein, ohne dass er damit so richtig etwas hätte anfangen können – im Unterschied zu den Leuten, die um ihn herum die politische Führung stellen und die eigentliche Macht bis heute ausüben. Hier schloss Bush nahtlos an seinen Vater an: Bis heute sind fast alle führenden Kämpen der Administration Bush sr. wieder in Amt und Würden – zuzüglich der halbmafiösen Clique, die unter Präsident Ronald Reagan für die Iran-Contra-Affäre und die verbrecherische Lateinamerikapolitik verantwortlich zeichnete.

Bis zum 11. September schien es so, als ob Bush – ganz die (persönlich noch dazu recht dumme) Marionette von Ölindustrie und väterlichen Seilschaften, als die ihn seine Kritiker stets porträtierten – vor allem dazu diente, diesen Leuten wieder an die Schalthebel zu verhelfen, von denen sie in der Clinton-Ära verdrängt worden waren. Hinzu kam die Politik zum Wohle seiner eigenen Geschäftsinteressen beziehungsweise der seiner Freunde und Gönner, ohne die der unbedarfte Mann schon in der Jugend gescheitert wäre, seiner alten Elite-Seilschaften aus dem „Skull an’ Bones“-Geheimbund an der Yale-Universität, seiner Partner aus dem Erdölgeschäft.

Wäre Bushs Präsidentschaft so weitergegangen, eine Amtszeit im erkennbar eigenen Interesse also – die Pleite des Enron-Konzerns, dessen betrügerischer Manager Kenneth Lay zu Bushs engsten Förderern gehörte, wäre für den Präsidenten politisch nicht zu überleben gewesen. Und seine unscheinbare Order, etliche Akten über sein eigenes und das Gebaren seines Vaters auf Jahre unter Verschluss zu halten – ein klarer, aber dem Präsidenten in Ausnahmefällen zugebilligter Verstoß gegen das US-Informationsfreiheitsgesetz – wäre in den Medien zum Thema geworden.

Dann kamen die Anschläge von New York und Washington, und Bush hatte sein Thema. Jetzt konnte, jetzt musste er Führung zeigen. Die US-Amerikaner, deren große Mehrheit ihn nicht gewählt hatte, die Witze über den Präsidenten rissen und auf eigenen Websites seine dümmsten Äußerungen sammelten, waren schockiert und nur allzu bereit, ihrem Präsidenten zu folgen, wenn er sie denn irgendwohin führt.

Selbst in dieser, für einen Präsidenten schwierigen, aber ungeheuer vorteilhaften Situation schien Bush zunächst zu versagen. Tagelang mussten die New Yorker auf ihn warten, statt Bush fand Bürgermeister Rudolph Giuliani die richtigen Worte und wuchs über sich hinaus. Bushs Unfähigkeit, gehaltvolle Dinge ohne Manuskript zu formulieren, ohne dass Unsinn herauskommt, verschloss dem Präsidenten zunächst die Tore der Mediengesellschaft. Zwei Tage nach dem Anschlag ließen ihn seine Medienberater live im Fernsehen mit Giuliani und dem New Yorker Gouverneur George Pataki telefonieren – es wurde ein PR-Desaster. Giuliani und Pataki redeten eloquent, entschlossen, mitfühlend und hemdsärmelig. Bush stammelte, fand keine Worte, wusste nichts zu sagen.

Doch seitdem ging es bergauf. Bush zeigte sich am kommenden Tag auf „Ground Zero“, und als dann, Beweise hin, Bedenken her, der Krieg gegen Afghanistan in die konkrete Vorbereitung ging, hatte der Präsident sich gefunden. Am 20. September hielt er eine viel beachtete Rede vor beiden Häusern des Kongresses, die sonst immer nur einmal im Januar für die Rede zur Lage der Nation zusammenkommen, und setzte das Wort vom Kampf des Guten gegen das Böse in die Welt, bei der das Gute sich durchsetzen werde. Seine Minister, Berater und der britische Premier Tony Blair reisten um die Welt und schmiedeten die internationale Antiterrorkoalition zusammen. Bush blieb in Washington und widmete sich ganz der Nation und seinen steigenden Zustimmungsraten.

Er wuchs mit der Aufgabe. Es gelang ihm meist, die Manuskripte fehlerfrei zu lesen, und wenn er frei improvisierend plötzlich von einem „Kreuzzug“ sprach, nahm sein Sprecher Ari Fleischer den Fauxpas mit dem Ausdruck des Bedauerns genauso zurück wie den ersten Namen der Afghanistan-Operation, der ursprünglich „Unendliche Gerechtigkeit“ hatte lauten sollen, was bei Muslimen auf arge Missbilligung stieß.

Wohin der Weg führte, ist bekannt. Afghanistans Taliban wurden vertrieben, von Ussama Bin Ladens Ergreifung, die Bush noch „tot oder lebendig“ gefordert hatte, wollten die USA bald nichts mehr wissen, die Zustimmungsrate des Präsidenten kletterte auf die Schwindel erregenden Höhen, die nur Kriegspräsidenten erreichen und womöglich bald wieder verlieren.

Seither ist Bush ohne Krieg nicht mehr denkbar. Er kümmert sich auch um nichts anderes mehr. Karl Rove, sein oberster politischer Berater, wird in der New York Times mit den Worten zitiert, der Präsident habe seine Berater schon vor geraumer Zeit angewiesen, für eine „robuste“ innenpolitische Agenda zu sorgen, er selbst aber könne darauf nicht so viel Zeit verwenden.

Tage wie der Mittwoch dieser Woche, der Jahrestag der Anschläge, sind Bush-Tage. Da setzt er wieder sein Ich-bin-betroffen-und-entschlossen-Gesicht auf, grinst mitunter grimmig und fordert Patriotismus. Er hat die US-Amerikaner gelehrt, dieses Wort mit Gefolgschaft zu übersetzen.

Dass er dabei immer noch dummes Zeug plappert, scheint inzwischen niemanden mehr zu stören. „Was die Feinde begonnen haben, werden wir vollenden“, sagte Bush am Abend des Gedenktages bei seiner wie üblich kitschig in Szene gesetzten Fernsehansprache vor dem Hintergrund der Freiheitsstatue. Bitte, was? Aber die US-Amerikaner haben sich an George W. Bush gewöhnt. Sie wissen schon, was ihr Präsident meint.

Und sie wissen auch, dass er auf einen Irak-Angriff drängt. Bushs Präsidentschaft hat ohne einen sichtbaren Krieg keinen Sinn. Er braucht den Schwung, den das Gedenken an den 11. September seinen neuen Kriegsplänen geben kann, um neu durchzustarten. „Er hat sich als Oberkommunizierender große Verdienste erworben“, fasst Larry Berman von der University of California, Autor mehrerer Bücher über präsidentielle Entscheidungen, das Bush-Jahr nach dem 11. September zusammen. Tatsächlich ist Kommunikationsfähigkeit bei allem Hang zur Stilblüte vielleicht das einzige echte Qualitätsmerkmal, das von Bush-Mitarbeitern aus all seinen Lebensabschnitten berichtet wird – der Mann hat Charme, kann auch mal zuhören. Und während er womöglich von ganzen Weltregionen, Ländern und erst recht deren Regierungschefs noch nie etwas gehört haben mag, erinnert er sich an Personen, die er getroffen hat. Oder er vermittelt zumindest das Gefühl.

Der eigenen Nation den Sinn eines Krieges zu erklären, den eigentlich niemand wirklich versteht, ist aber etwas anderes. „Vor einem Jahr ist Bush durch die Umstände gezwungen worden, das Land in einen Krieg zu führen. Jetzt geht es um einen Krieg seiner eigenen Wahl“, schrieb die Washington Post gestern. Fürwahr, der Präsident hat sich emanzipiert und hofft darauf, dass auch der Rest der US-Amerikaner das als Stärke empfindet.

Ein bisschen Scham bleibt. In seiner Fernsehansprache erwähnt er den Irak nur indirekt: „Wir werden es keinem Terroristen oder Tyrannen erlauben, die Zivilisation mit Massenmordwaffen zu bedrohen.“ Massenmordwaffen – warum ist die Friedensbewegung nie auf dieses Wort gekommen?

Und dennoch – seinen Popularitätszenit hat Bush überschritten. Seine Zustimmungsraten in den Umfragen sind auf 60 Prozent herunter, was immer noch viel ist, aber nicht mehr unschlagbar. Wie die Zwischenwahlen am 5. November ausgehen, ob die Republikaner gar auch die Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren, scheint derzeit völlig ungewiss. Die unerledigten Themen seiner Präsidentschaft holen den Amtsinhaber ein. Zeit für Bush, vor den Vereinten Nationen umso energischer Aktionen gegen den Irak zu fordern. Im Interesse der Freiheit und des Weltfriedens, versteht sich.