Renaissance der Scheherazaden

Claudia von Gélieu und Beate Neubauer sind Stadtführerinnen in Berlin. Der rote Faden ihrer Touren sind Frauen, denn ohne Fürstinnen und Fischmaries, Kämpferinnen und Mätressen, Suppenlinas und Bubiköpfe wäre Berlin nicht, was es ist

von WALTRAUD SCHWAB

Was heute die Stadtführerin ist, war früher die Märchenerzählerin. Über Jahrhunderte hinweg musste es ihr mit viel Raffinesse gelingen, beim leseunkundigen Publikum den Spannungsbogen zu halten. Nur wenn Zuhören Spaß machte, war gewährleistet, dass die Geschichten an nachfolgende Generation weitergereicht wurden. Denn die Überlieferungen waren die Dokumentation, das kollektive Gedächtnis aber Archiv.

Das Medienzeitalter, das mit dem Buchdruck begann, hat die Scheherazaden überflüssig gemacht. Heute jedoch – in Zeiten der „Informationsflut“ – erleben sie eine unerwartete Renaissance. Aus dem Überangebot an Nachrichten, Wissen und Klatsch destillieren sie ihre eigene und mitunter eigenwillige Essenz. Sei es als Erzählerinnen ganzer Epen wie Gilgamesch in den Kaminzimmern von Stadtvillen, sei es als Alleinunterhalterinnen auf städtischen Bühnen oder als Stadtführerinnen wie Claudia von Gélieu und Beate Neubauer. Wer mit einer von ihnen durch Berlin zieht, bekommt Geschichten geboten, die Geschichte sind. Von Fürstinnen und Fischmaries, Hexen und feinen Damen, von Salonièren und Mätressen.

Jede Stadt wird spannend, wenn Eingeweihte sie den Fremden zeigen. „Hier gab es. Da hat einmal. Da war.“ Im Grunde ist es gleich, welcher Blickwinkel vom Tourguide gewählt wird. Claudia von Gélieu, die Sozialwissenschaftlerin, und Beate Neubauer, die Historikerin, erzählen auf ihren Führungen von den historischen Begebenheiten Berlins. Ihr roter Faden aber sind Frauen der jeweiligen Epochen. Denn keine Stadt hat nur eine von Männern gemachte Geschichte.

In den 80er-Jahren ist Gélieu bei Exkursionen an die Orte der Arbeiterbewegung in Berlin aufgefallen, dass Arbeiterinnen nicht vorkamen. „Da habe ich die Ergänzung geliefert. So fing das an.“ Heute haben sie und ihre Kooperationspartnerin Neubauer 42 „Frauentouren“ durch die Stadt im Repertoire. Mal entlang der Spree, mal entlang von Friedhöfen, mal entlang der Lebensstationen berühmter Zeitgenossinnen wie Rosa Luxemburg.

„Mitläuferinnen, Opfer, Täterinnen? Frauenleben in der NS-Zeit“ heißt eine Führung vom Reichstag bis zur Humboldt-Universität. Zugrunde liegt die Frage, ob die vielfach geäußerte Behauptung stimmt, dass Frauen Hitler an die Macht gebracht hätten. Statistiken, die das belegen, liegen nicht vor. Nach Geschlechtern getrennte Wahlurnen gab es während der ganzen Weimarer Republik nur in Köln. Dort wählten Frauen vorwiegend das Zentrum, berichtet Gélieu.

1932 waren 6 Prozent der Abgeordneten im Reichstag Frauen. Vor dem Gebäude ist eine Skulptur, die an jene erinnert, die von den Nazis ermordert wurden. Darunter Clara Bohm-Schuch (SPD). Sie wurde verhaftet, weil sie sich bei Göring über die SA beschwert hatte. 1936 starb sie an den Folgen der Inhaftierung im Frauengefängnis in der Berliner Barnimstraße. Zehntausend seien zur Beerdigung gekommen und nutzten dies als Manifestation gegen den Faschismus. Große Geschichte, kaum bekannte Details.

Am Pariser Platz, dort wo die Botschaft der USA stand und wieder gebaut wird, erinnert Gélieu an Martha Dodd, Tochter des US- Botschafters von 1933 bis 1938. Sie war an der Entstehung der Widerstandgruppe Rote Kapelle beteiligt. Dodd kam in Kontakt mit Mildred Harnack, der einzigen Amerikanerin, die von den Nazis hingerichtet wurde. Ihr Todestag ist in Wisconsin nationaler Gedenktag gegen den Faschismus, berichtet Gélieu.

Langsam zieht die Schar Unter den Linden entlang. Die Gebäude geben der Stadtführerin den Anlass, über Frauenpolitik der Nazis, Zwangsarbeiterinnen oder Exil zu sprechen. „Wer hat die Parole ‚Kauft nicht bei Juden‘ umgesetzt“, fragt Gélieu. Einkaufen war damals und ist auch heute Frauensache. Oder: „Wurde an typischen Frauenarbeitsplätzen wie denen in Bibliotheken Widerstandsarbeit geleistet?“ Auch die Humboldt-Universität wird Kulisse für kritisches Nachfragen. Heilpflegerische Berufe sind eine Frauendomäne. Eine unrühmliche Rolle spielten Fürsorgerinnen, Krankenschwestern oder Ärztinnen von daher im Kapitel Euthanasie. Denn oft waren sie an der Auswahl Kranker oder sozial Benachteiligter, die sterilisiert oder umgebracht wurden, beteiligt. Für zwei Stunden ist der zentrale Boulevard der Stadt eine Projektionsfläche für Diskussionen. „Eine schöne Art, mit wildfremden Menschen ins Gespräch zu kommen“, sagt eine Teilnehmerin.

Beate Neubauer ist bei ihren Touren eher auf die alte Geschichte der Stadt bezogen. Ohne Kurfürstinnen und Königinnen wäre Berlin nicht, was es ist. Wer aber weiß, welche Frauen sich hinter U-Bahnhofs-Namen wie „Sophie-Charlotte-Platz“ und „Kaiserin-Augusta-Straße“ oder Bezeichnungen wie „Dorotheen- und Luisenstadt“ verbergen?

Gélieu und Neubauer sind ein Ost-West-Duo, das sich vor dem Mauerfall begegnete und schon damals über die Ignoranz, die Frauen in der Geschichtsschreibung entgegengebracht wird, entrüsteten. Neubauer arbeitete am Zentralinstitut für Hochschulbildung an der Humboldt-Universität, studierte zusätzlich Geschichte quer durch die Jahrhunderte und kündigte 1988 ihre Arbeit an der Universität „aus Neigung, nicht aus Zwang“, um als Journalistin bei der Für Dich, der Frauenzeitschrift in der DDR, zu arbeiten.

Nach dem Fall der Mauer zog sie durch Westeuropa auf der Suche nach einem neuen Job an den historischen Fakultäten der Universitäten. „Ich wurde herzlich aufgenommen, weil viele zum ersten Mal eine echte Ostfrau sahen.“ Jobs hatten sie keine. In England sagte man der damals 43-Jährigen, was Sache ist. „Sie sind zu alt. Warum machen Sie nicht etwas, das Ihren Erfahrungen entspricht.“ Ein Schock. „Da habe ich begriffen, dass die autoritäre Erziehung so in mir steckte, dass ich mich unterordnen wollte.“

Anfang der 90er-Jahre suchte Neubauer erneut den Kontakt zur Westberlinerin Gélieu, die Stadtführungen machte. Allerdings nur im Westen, weil sie Ostberlin nicht vereinnahmen wollte. „Die so lange getrennte Stadt hatte damals keine gemeinsame Geschichte mehr“, sagt Neubauer und begann ihrerseits Touren zu konzipieren.

Gélieu und Neubauer verstehen ihre Arbeit als Erwachsenenbildung in einer methodisch komprimierten Form. „Die Führungen sollen ein erfassbares Erlebnis sein.“ Nicht immer ist das leicht. „Wenn man sich auf Frauen bezieht, wird man gern in die marginale Ecke gesteckt“, sagt Neubauer.

Fast 13 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es möglich, Berlin wieder als Ganzes zu begreifen. Das aber, so Neubauer, legt Dinge offen, die vorher ebenfalls durch die Geschichte verdeckt wurden: „Wenn man die Stadt in historischen Kontinuitäten denkt, müsste man sich mit den Fragen der Zuwanderung und Integration beschäftigen.“ Seit dem 12. Jahrhundert bis heute. Die Topografie Berlins lege Zeugnis ab für die vielfältigen Wanderbewegungen, die den Puls Berlins bestimmen. „Immer waren es dabei die Frauen, die dem Geist der Zeit einen Ort gaben. Egal, woher sie kamen.“

Mittlerweile können die beiden Stadtführerinnen von ihrem Unternehmen leben. „Wir sind die Einzigen, die vollständige Geschichte vermitteln“, sagt Claudia von Gélieu. Ab September probieren sie eine neue Spielart: Führungen für Kinder.

Infos: www. frauentouren.de