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: Feuilleton-Kombattanten unter sich: Ringen um die Definitionsmacht vor der Buchmesse in Leipzig

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Zu den beliebtesten und zugleich schwierigsten Übungen bei einer Buchmesse gehört es, den einen wichtigen literarischen Trend, den einen großen Star aufzuspüren. Meist sind die Halbwertszeiten solcher Trends nicht groß und die Stars schnell wieder vergessen – oder weiß noch jemand, was vor drei Jahren in Leipzig die Diskussionen beherrschte? Oder was es mit Georg Klein auf sich hatte, der 2001 überschwänglich gefeiert wurde und sich dabei gut zu inszenieren wusste? Und war da neulich nicht auch in Frankfurt was? Schlugen dort nicht die Terroranschläge in den USA zumindest auf die Stimmung und die Festreden?

Das Gedächnis des Literaturbetriebs ist ein kurzes, da unterscheidet er sich in nichts von seinem großen Bruder, dem Pop-Business. Immerhin gibt es nun ein halbes Jahr später haufenweise Veröffentlichungen, die im direkten Zusammenhang mit dem 11. 9. stehen: Neuerscheinungen über den Islam und den islamischen Fundamentalismus, über Terror und Gewalt, Bücher wie Wolfgang Sofskys „Zeiten des Schreckens. Amok – Terror – Krieg“ oder Peter Sloterdijks „Politik des Terrors“.

Man könnte sagen: Die Leipzig 2002 steht ganz im Zeichen der intellektuellen Aufarbeitung des 11. 9. Oder wird es doch eher regiert von den vielen einstigen DDR-Schriftstellern, die in diesem Frühjahr neue Bücher veröffentlicht haben? Das kann Zufall sein; das kann aber auch Methode haben, so schnell verschwindet ein Staat wie die DDR nicht aus Köpfen und Herzen. Es braucht eben Zeit für Aufarbeitung und Erinnerungen.

Andererseits, andererseits: Wer bislang kein Buch von Christa Wolf gelesen hat, wird es auch jetzt nicht tun. Da entfalten schon die ersten Seiten von „Leibhaftig“ abschreckendste Wirkungen, da hilft selbst eine lesenswerte Biografie wie die von Jörg Magenau nichts. Ja, und reicht nicht Wolfgang Hilbigs Roman „Ich“ von 1993, um die Atmosphäre der späten DDR aufs präziseste zu erfahren?

Wie jedes Jahr beweisen auch die Literaturbeilagen der großen Tageszeitungen, dass der einzige Trend der ist, dass es keinen gibt: Richard Powers, Andreas Maier, Philip Roth, Steffen Kopetzky oder Marlene Streeruwitz werden auf den vorderen Seiten besprochen und haben alle wenig miteinander zu tun, außer dass sie durch die Bank lesenswert sind. Aufschlussreicher als die Beilagen dagegen ist die vermeintlich unterschiedliche Positionsbestimmung, die im Moment die Großfeuilletons von FAZ und SZ vornehmen.

Da hat also die eine in ihrer Sonntagsausgabe einen „kleinen Kanon der Gegenwartsliteratur“ bestimmt und sich einen großen Jungsspaß à la Nick Hornby erlaubt, ohne dabei aber wirklich Spaß zu verstehen: Verdächtig viel ist von „groß erlebten“, „groß erzählten“, „exzellent“ geschriebenen Büchern die Rede, verdächtig die Seitenhiebe auf den von der SZ gefeierten Germanistikprofessor Heinz Schlaffer und dessen „Kurze Geschichte der deutschen Literatur“. Ganz korrekt zielt die FAS gegen die Allgegenwart der immergleichen Großschriftsteller, erinnert dann aber in Gestus und Wortwahl stark an den Großkritiker Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“.

Ein Kanon, der wie üblich keinem hilft, aber seine Wirkung nicht verfehlt hat. Die Antwort der SZ folgte in Form einer teils treffenden, teils larmoyanten „Bestandsaufnahme“ des Literaturbetriebs, dessen „Gleichmut“ die wirklich gute Literatur und „radikal subjektive Weltsichten“ unter sich begräbt. Auffällig dabei: der Furor, mit dem gegen die Kollegen argumentiert („Fleißkärtchenverteiler“, „bodenloser Mangel an Orientierung“) und um Definitionsmacht gerungen wird. Junge Literatur versus neue Ernsthaftigkeit? Pop versus Anti-Pop? Richtiges Leben versus richtige Literatur? Oder bloß FAZ versus SZ? Ein Literaturbetriebsstreit der Literaturkritiker, vor allem gut fürs männliche Ego?

Ein Trainer wie Otto Rehagel würde Fragen wie diese so beantworten: „Wichtig ist auf’m Platz“. Also Leipzig. Also die Bücher. Also das Publikum.

GERRIT BARTELS