Und noch ein Glasnost bitte!

Wo der Filzstiefel brennt: Die Ausstellung „Davaj!“ in Berlin zeigt „Russian Art Now – aus dem Laboratorium der freien Künste in Russland“. Momentaufnahmen der Generationen nach der Wende

von HARALD FRICKE

An der Garderobe herrscht großes Durcheinander. Ein junger Mann hat seine Kennmarke verloren, und nun sehen alle Rucksäcke für ihn gleich aus. Nur die Gitarre ist es bestimmt nicht. Aber wer bringt zur Eröffnung einer Ausstellung seine Gitarre mit? Egal, wenn das Thema russische Kunst ist, dann darf es in Berlin schon mal wild, chaotisch und sehr bunt zugehen.

Das war auch der Wunsch der Berliner Festspiele, die gemeinsam mit dem Museum für Angewandte Kunst in Wien das Festival „Davaj!“ im Postfuhramt in Mitte geplant haben. Als Festspiele-Intendant schwärmt Joachim Sartorius im Katalog von der Radikalität, die sich in der neuen russischen Kunstszene abzeichnet – immerhin soll es dabei um „die totale Revision aller gesellschaftlichen Fundamente“ gehen. Solchermaßen revolutionär angetriggert, sieht er die Auswahl der zwei Dutzend KünstlerInnen als „eine waghalsige Momentaufnahme“, bei der sich die Akteure von den Vorgaben des Westens abgewendet haben und jetzt in der Rückkehr zur russischen Kultur nach einem Rest Utopie stöbern.

Das klingt nach Ostromantik, nach schrulligen Art-Eremiten, die in Sibirien oder St. Petersburg Saufgelage abhalten und sich ansonsten voller Schwermut die Wunden lecken, die ihnen der Kapitalismus zugefügt hat. Ach Brüderchen, ach Prost, und noch ein Glasnost bitte! Dass damit ein Exotismus geschaffen werden könnte, der immer wieder nur die alten Mythen reproduziert, ist den Veranstaltern wohl bewusst. So starrt man in Berlin am Ende einer langen Raumflucht auf eine Leinwand, auf der das Video einer „Archaeoptaeryx“-Performance von Maxim Werjowkin zu sehen ist: Der aus Ischewsk im Ural stammende Mann trägt einen brennenden Filzstiefel auf dem Kopf und taumelt nackt durch die Gegend. Man erkennt die Verbindung zu Joseph Beuys – Filz, Mann, Filz –, wird aber im Katalog darüber aufgeklärt, dass Werjowkin sich ebenso auf das englische Sprichwort „the roof is on fire“ bezieht, wenn er an seinem Oberstübchen zündelt.

Gesprochen wird bei der orange vor sich hin glühenden Aktion nicht. Auch sonst sind die massiv in Berlin vertretenen Extremperformer wortkarg: Jelena Kowylina aus Moskau tanzt in ihrem Video stumm Walzer und kippt in jeder Runde ein Glas Wodka; Dimitri Wilenski lässt einen Langhaarigen zwischen lauter Neubauten in einer Pfütze baden; und bei Jekaterina Kandybas 20-teiliger Fotoserie muss man sich die Märchen hinzudenken, für die sie expressiv Grimassen schneidet. Vielleicht sind es Gruselgeschichten, vielleicht auch subtile politische Statements. Mit den früheren Moskauer Konzeptualisten hat das Spiel der Fiktionen allerdings nichts gemeinsam. Da es keine totalitäre Ideologie mehr zu bekämpfen gibt, so Konstantin Bochorow im Katalog, wird Kunst in der neuen Gesellschaftsordnung von einem „militanten Individualismus“ angetrieben.

Tatsächlich sind die Ideologien, Obsessionen und Generationen, die da seit 1989 entstanden sind, vielzählig. Das Ehepaar Galina Mysnikowa und Sergei Prowarow versucht mit einer vierfachen Videoprojektion aus Turnschuhen, Tennisrackets, Mountainbikes und Basketbällen, die Sportbegeisterung in ihrer Heimatstadt Nischni Nowgorod als fetischisierte Freizeitgestaltung zu entlarven. Kerim Ragimow hat demolierte Mercedessterne fotografiert und das Wahrzeichen des Westluxus als billige Pappkopien auf dem Fußboden zwischen Herbstlaub verteilt, auch aus melancholischen Gründen, denn „die Welt, wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr und wird es nicht mehr geben“. Daneben hängen Fotos von Anna Timofejewa, die für ein Stillleben mit Wollfäden ein symbolisches Herz in einen realen Fleischklumpen genäht hat und die sentimentale Begegnung „Growing Harder“ nennt.

Bei so viel Trauerarbeit, Askese und exorzierter Selbstreinigung ist man verblüfft, wie antiaufklärerisch in Russland zurzeit offenbar über Kunst nachgedacht wird. Alles ist Zeichen, alles wird auf den eigenen Körper bezogen, gespiegelt und projiziert, als wäre der Wille zur Identität schon Maßstab für Wirklichkeit. Sind die Probleme der Kontextualisierung von Ästhetik und sozialer Praxis oder die Fragen nach Globalisierung bloß als schlechter Scherz angekommen? Reicht es, wenn die Nowosibirsker Gruppe „Die Blauen Nasen“ Fotocollagen aus Bush, Putin und Bin Laden bei einer Ménage à trois zusammenschnippelt, um gegen die neuen Territoriumskämpfe zu protestieren?

Natürlich nicht. Deshalb sind in Berlin gerade die Arbeiten wichtig, die das eigene Fremdsein ins Verhältnis zum Anderen setzen und so überhaupt kenntlich machen. Zum Beispiel das Projekt der Moskauer Gruppe „Escape“: Sie hat ein Reisebüro eingerichtet, das auf Prospekten und mit Werbevideos Touren zu Puschkins Geburtsort oder in den Moskauer Underground gleichberechtigt mit New-York-Sightseeing anbietet, weil das Nebeneinander erst Gegensätze schärft. Beim „Ragev“-Kollektiv läuft die Installation auf ein erstaunlich dichtes Patchwork aus Sounds hinaus, an dem sich alle Besucher beteiligen können. Ein Synthesizer ist so geschaltet, dass er mit jedem Tastendruck den vorprogrammierten Akkord verlängert – im günstigsten Fall bis in alle Ewigkeit.

Der klarsichtigste Kommentar auf die Situation in Russland stammt indessen von Oleg Kulik. Seine zwölfteilige Fotoserie „Dead Monkeys“ zeigt präparierte Affengesichter, in deren toten Knopfaugen sich selbst der helle Blitz der Kamera nur mehr matt wiederspiegelt. Kulik lehnt das ganze Gewese um die angebliche russische Seele konsequent ab. Stattdessen schreibt er über seine Ahnengalerie aus dem Naturkundemuseum: „Deine Seele wird vor deinem Körper sterben; also fürchte dich vor nichts. Und trotzdem will der Mensch lieber das Nichts, als nichts zu wollen oder nichts zu fürchten.“ Das ist im Zuge der Debatte um Klonindustrie und anthropologische Konstanten zwar entmutigend, aber immerhin.

Bis 27. 2., Postfuhramt Berlin; der Katalog ist im Hatje Cantz Verlag erschienen und kostet 20 €.