„Netzwerke morden und küssen“

Der spanische Soziologe Manuel Castells über Terrorismus, die Logik der Ausschließung und den Technologietransfer in die Entwicklungsländer. Die notwendige Hilfe soll ein technologischer UN-Marshallplan bringen, den Kofi Annan angeregt hat

Interview JAN ENGELMANN

taz: Herr Castells, in den letzten Jahren haben Sie sich verstärkt mit den Konsequenzen der Globalisierung beschäftigt, insbesondere im Hinblick auf die Ungleichverteilung von Informationstechnologien. Wie beurteilen Sie die Chancen der Entwicklungsländer, den „digital gap“ mittels Technologieprojekten, etwa lokalen Wissenszentren, zu überwinden?

Manuel Castells: Dies ist die zentrale Frage, die mich umtreibt. Nur, wenn es den armen Ländern gelingt, auf das Informationszeitalter „aufzuspringen“, können sie noch aus ihrer Randständigkeit befreit werden. Hierzu gibt es keine Alternative. Um es platt zu sagen: Zwar kann man das Internet nicht essen, aber genug essen ohne das Internet auch nicht. Es ist kein Spielzeug, sondern vergleichbar mit dem, was Elektrizität während der Industrialisierung darstellte. Inzwischen stimmen wir ja alle darin überein, dass Informationen und Bildung zentrale Faktoren der Entwicklungshilfe sind. Aber das Problem bleibt bestehen, dass der Prozess der Dekolonisierung von Lehrern begleitet wird, die selber kaum lesen können. Wie bilden wir also möglichst rasch die Ausbilder aus? Nur mit virtuellen Unterrichtsformen ist dies möglich. Diese sind nicht in erster Linie ein Rationalisierungstool der Industrienationen, sondern unverzichtbar für Entwicklungsländer.

Zurzeit arbeite ich in einer UN-Projektgruppe mit, die einen technologischen Marshallplan für die dritte Welt entwirft. Kofi Annan hat sie angeregt und auch Global Player wie z. B. Siemens für die Mitarbeit gewonnen. Es geht darum, die Infrastruktur und Human Resources in Entwicklungsländern zu verbessern. Mein eigener Beitrag bestand lediglich darin, die Konsequenzen und Folgekosten zu skizzieren, falls man sich nicht verstärkt in diesem Bereich engagiert. Die konkrete Entscheidung darüber, welche Informationstechnologien vor Ort vonnöten sind, welche probaten Mittel zur Verbesserung des Ausbildungsstandes, der Medienkompetenz und politischen Partizipation ergriffen werden, müssen andere treffen.

Zynische Stimmen mögen einwenden, es ginge den Industriemultis bei besagtem UN-Projekt doch nur darum, unter dem Banner der Entwicklungshilfe ihre Produkte an den Mann zu bringen. Doch das ist falsch gedacht. Beispiel Indien: Bangalore oder Bombay sind längst Teil der globalen Netzökonomie. Doch 700 oder 800 Millionen anderer Inder sind weiterhin komplett davon ausgeschlossen. Nur eine elitäre Sichtweise, die übrigens auch typisch für europäische Linke ist, kann dies übersehen. Diese Menschen müssen erst einmal wettbewerbsfähig gemacht werden, bevor man ihnen mit Kapitalismuskritik kommen kann.

Gestatten Sie trotzdem eine elitäre Frage. Die Netzwerk-Metapher, die Sie nicht nur auf ökonomische Zusammenhänge anwenden, war bereits in der französischen Theoriebildung sehr beliebt, wenn wir nur an Gilles Deleuze, Michel Serres oder Bruno Latour denken. Worin liegt eigentlich ihr analytischer Mehrwert begründet?

Netzwerke sind keine theoretische Erfindung, sondern strukturieren menschliches Handeln seit Jahrtausenden. Sie haben den Vorteil, sehr flexibel und anpassungsfähig zu sein. Früher waren sie zumeist privater Natur und standen im Widerspruch zu einer vertikalen Bürokratie, die bestimmte, welches Land zu erobern oder welche Religion zu unterjochen war. Heute haben wir die wirklich neue Situation, dass sehr komplexe Netzwerke mittels Technologie in die Lage versetzt werden, Abermillionen sozialer Interaktionen – z. B. finanzielle Tauschgeschäfte – in Echtzeit zu regeln. Wo immer man hinguckt, sind Netzwerke dabei, die Wirtschaftsform, die Unternehmensstrukturen, den Arbeitsmarkt, die Medien usw. gründlich umzukrempeln. Insofern muss man sie nicht erst wie die Philosophen suchen, sie sind ganz einfach da.

Gewiss ist nicht alles in der Form von Netzen organisiert, aber zumindest alles, was andere Einheiten oder Arrangements aus dem Rennen schlägt und dominiert. Mit den neuen Technologien wird aber auch ihre zentrale Schwäche überdeutlich: ab einem gewissen Komplexitätslevel haben Netzwerke Probleme damit, Ressourcen für einen bestimmten Zweck bereitzustellen und zielgenau zu leiten. Ihre binäre Logik, die nur zwischen Inklusion und Exklusion unterscheidet, macht ihre Wirkungsweise doppelbödig. Denn schlimmer noch als ausgebeutet zu werden, ist es, gänzlich unbeachtet und irrelevant zu bleiben. Im Grunde könnte der ganze Planet auf das vernetzte Drittel der Weltbevölkerung reduziert werden, was natürlich in keiner Weise eine sozial nachhaltige Situation darstellt.

Netzwerke sind also gewissermaßen Versuch-und-Irrtum-Systeme, die sich der Kontrolle entziehen. Kevin Kelly schrieb einmal, dass sie kleine Fehler zulassen, um größere zu vermeiden ...

Ich finde seine Formulierung sehr hellsichtig, sage aber auch: Wie Netzwerke arbeiten, hängt in letzter Konsequenz immer davon ab, welcher soziale Akteur sie in welcher Weise programmiert. Man darf nicht den Fehler machen, sich wie Kelly von der evolutionären Schönheit biologischer Netze verführen zu lassen. Natürlich ist es toll anzusehen, wie sich eine Struktur selbst reproduziert und Synergieeffekte herstellt. Aber Netzwerke sind als Strukturen gänzlich wertneutral, sie morden und sie küssen, je nach Wunsch.

Die al-Qaida stellt gegenwärtig den prominentesten Versuch dar, so etwas wie ein globales Gegen-Netzwerk zu knüpfen. Wie erfolgversprechend ist es, einen Knotenpunkt des Feindes eliminieren zu wollen – sei es nun Manhattan oder umgekehrt bestimmte Schurkenstaaten?

Wenn man ein Loch in ein Netz schlägt, führt das ganz einfach dazu, dass sich das Netz rekonfiguriert. Eine erfolgversprechende Strategie müsste eher den Quellcode des Programms adressieren, welches das Netzwerk arbeiten lässt, bzw. diejenigen Bestandteile ausfindig machen, welche die Entstehung des Netzes erst ermöglicht haben.

Im konkreten Fall ging es für al-Qaida darum, mit dem WTC nicht nur einen Knoten zu eliminieren, sondern in die Medien als einem Schlüsselnetzwerk zu intervenieren. Die vielen Toten haben sie dabei billigend in Kauf genommen. Es ging ihnen vor allem um unser Bewusstsein, um die Auferlegung ihrer eigenen Sichtweise davon, wie ihre Religion und kulturelle Identität marginalisiert, ihre Wirtschaft benachteiligt und ihr heiliger Boden beschmutzt wird. Auf einer rein analytischen Ebene können wir von einer sozialen Bewegung sprechen. Denn nicht zuletzt war die Attacke auch Ausdruck davon, wie Menschen dagegen mobilisieren, dass ihre zentralen Werte, wie z. B. das Patriarchat, an Boden verlieren.

Die Strategie der USA wiederum könnte nur dann effektiv sein, wenn z. B. Bin Laden tatsächlich das Problem darstellte. Aber die dahinterliegenden Strukturen des Terrorismus – Institute der Geldwäsche und Ölfirmen als Finanziers, die komplett in unsere Wirtschaft integriert sind – werden durch den Krieg gar nicht berührt. Die Bombardements könnten stattdessen immer noch dazu führen, dass sich Solidaritätseffekte zwischen verarmten muslimischen Bevölkerungsschichten und den gut ausgestatteten Islamisten einstellen – eine Neuprogrammierung des Netzes, auf die Bin Laden ja gerade aus war. Wenn wir also nur auf Eliminierung setzen, hat er gewonnen.

Für vieles ist der 11. September inzwischen zum Symbol geworden. Sehen Sie den Terrorangriff gegen das World Trade Center auch als Wendepunkt für metropolitane Architektur?

Es gibt keine empirischen Anzeichen dafür, dass die weltweite Tendenz zur Zusammenballung von Global Cities in irgendeiner Weise umkehrbar ist. Im Gegenteil kann man eine weitere Konzentration auf riesige urbane Knotenpunkte für die nächsten Jahrzehnte prognostizieren. Allerdings wird wohl der repräsentative Wert, den man Hochhäusern zuschreibt, gewaltig abnehmen. Aber ich wende mich gegen jede Form der Futurologie, die aus wenigen Daten großartige Versprechungen ableitet.

Haben Sie von den Plänen der US-Regierung gehört, zukünftig ein nicht öffentliches Netzwerk getrennt vom Internet zu unterhalten?

Dabei geht es wohl nur darum, die Internetnutzung für Regierungsbeamte auch in Krisenzeiten sicherzustellen. Trotz aller Firewalls ist man natürlich auch dort der Gefahr eines Infowar durch Virenattacken ausgesetzt. Was mich nachdenklicher stimmt, sind die öffentlich geäußerten Pläne von Justizminister Ashcroft, die Gesamtarchitektur des WWW zu verändern – weg von offener, vertikaler Kommunikation und hin zu einigen wenigen Knotenpunkten, die staatlicher Kontrolle unterliegen. Doch um das wirklich umzusetzen, müsste sich die öffentliche Terrorpanik auch in anderen Ländern wohl noch erheblich steigern.

Könnte Spanien – mit seiner historischen Erfahrung in Bezug auf Terrorismus und Identitätskämpfe – etwas zur Lösung des Problems beitragen?

Die eilfertigen Angebote der spanischen Regierung hat die Bush-Administration dankend abgelehnt. Ich glaube, die amerikanischen Sicherheitsstäbe hatten eine Heidenangst vor komplett unorganisierten spanischen Behörden, die ihnen die Arbeit noch schwerer machen. Aber im Ernst: Wenn man bedenkt, dass das ETA-Problem schon viele Jahrzehnte die spanische Innenpolitik bestimmt, sollte man von keinem so hohen Sachverstand ausgehen. Sie denken eher in polizeilichen denn in politischen Kategorien, ganz so wie die Nato-Staaten im Augenblick.

Aber natürlich gibt es in den spanischen Autonomieregionen ein ausgeprägtes Bewusstsein von kultureller Identität. Die spezifische Erfahrung des Landes bestand darin, dass es bei seinem Eintritt in die Hypermoderne und die europäische Vernetzung nicht zu einer geeinten Identität fand. Im Baskenland haben wir deshalb die letzte terroristische Vereinigung Europas. In Katalonien verschmelzen die nationalistische Bestrebungen weitestgehend mit einem klaren Bekenntnis zu pluraler Demokratie. Bill Clinton war übrigens neulich in Barcelona und sagte, die Welt stünde vor der Alternative „to be taliban or catalan“. Vermutlich haben sie ihm viel dafür gezahlt.