Drahtzieher im Mittelpunkt

Revolution im türkischen Kino: Plötzlich stehen sozialkritische und politische Themen hoch im Kurs. Mit Hüseyin Karabeys „The Silent Death“ gibt es sogar einen Dokumentarfilm über die Isolationshaft

Korruption, Mafia, Drogen, Terrorismus und militärische Repression

von BARBARA LOREY DE LACHARRIÈRE

Die Frau rennt . . . vorbei an Luxusjachten, die im Bosporus ankern, an massigen Bodyguards und glänzenden Limousinen, denen finstere Gestalten mit prall gefüllten schwarzen Aktenkoffern entsteigen; vorbei an Geheimpolizisten, die einen schnauzbärtigen Mann abschirmen, den wir wenig später auf dem Fernsehschirm als Minister entdecken.

Havva ist eine international anerkannte Marathonläuferin, die für den eurasischen Marathon trainiert in der Hoffnung, mit dem Geldpreis die dringend notwendige Behandlung ihres gelähmten Bruder zu verdienen, der während seines Militärdienstes auf eine Mine getreten ist. Sie sieht und hört nichts von dem allem, was hier vor sich geht – bis sie eines Tages bei ihrem täglichen Training frontal in einen politischen Skandal hineinläuft.

„Elefanten und Gras“, der Politthriller des jungen türkischen Filmemachers Dervis Zaim, der beim diesjährigen internationalen Filmfestival in Istanbul mit dem Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet wurde, beruht auf Tatsachen. Er bezieht sich offen auf den so genannten Skandal von Susurluk, der 1996 ans Licht kam. In dem verwickelten, rastlosen Plot über die engen Verflechtungen zwischen politischer Macht und Mafia in der Türkei geben sich führende türkische Politiker, Mafiosi, hohe Staatsbeamte, Polizisten, Vertreter internationaler Geheimdienste, Drogenhändler und Aktivisten der kurdischen Befreiungsfront die Klinke in die Hand. Dabei zerreiben sie ebenso beiläufig wie gnadenlos das Leben einiger Nebenfiguren, die sich zufällig zum falschen Zeitpunkt am falschen Platz befinden. Nicht der arme Mr. Nobody steht hier wie bislang in den sozialkritischen Filmen der Türkei üblich im Mittelpunkt, sondern die Drahtzieher, die die politische Landschaft bestimmen.

Dieser explosive Cocktail aus Korruption, Drogenhandel, militärischer Repression und kurdischem Terrorismus spiegelt nur allzu genau die Probleme wider, in die der türkische Staat immer tiefer zu versinken scheint und die das Land gegenwärtig in eine der schwersten Wirtschaftskrisen seit Jahrzehnten gestürzt haben. Über 120.000 Zuschauer haben den Film bereits gesehen, ein beachtlicher Erfolg für einen engagierten Autorenfilm in der Türkei.

Fünf der insgesamt zwölf türkischen Filme, die seit letztem Jahr in der Türkei auf die Leinwand gekommen sind, haben mit Rekordbesucherzahlen von über zwei Millionen sogar die amerikanischen Produktionen überflügelt. Und selbst diese eher nach kommerziellem Muster gestrickten Tragikomödien mit ihren populären Stars lassen durchaus einige sozialkritische Töne anklingen. So thematisiert der an der Spitze der türkischen Blockbuster stehende Film „Vizontele“ von Yilmaz Erdogan, der von der Ankunft des ersten Fernsehers in einem kleinen anatolischen Dorf zu Beginn der Siebzigerjahre erzählt, den Übergang der traditionellen Gesellschaftsformen im Osten der Türkei in die Modernität.

„Abuzer Baklava“ von Tunc Bazaran, die Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg des Sängers Baklava, dem „König der Arabeske“, ist eine glänzend gemachte, beißende Parodie auf Showbusiness und Medienspektakel. Das Roadmovie „Balalaika“ wiederum führt den Zuschauer mit einer Busladung russischer Frauen, die an die türkisch-russische Mafia verscherbelt worden sind, durch Georgien in die Türkei. Dieser Film greift zum ersten Mal das Thema der russischen Prostituierten auf, die zu tausenden jährlich aus der ehemaligen Sowjetunion über die Grenze geschleust werden. Im gängigen Sprachgebrauch steht der Name Natascha in der Türkei inzwischen als Synonym für Nutte. Filmdirektor Ali Özentürks Message soll wohl lauten: Nicht alle russischen Frauen sind Nataschas, und viele Nataschas sind lediglich arme Mädels, die sich aus ökonomischen Zwängen verkaufen müssen.

Über den Impuls dieses Films möchte sich Pervin Tan, die Besitzerin des Beyoglu Sinemasi, lieber nicht äußern. Ihr Kino liegt wie viele andere im Istanbulder Taksimviertel versteckt in einer Ladenpassage, zwischen Coffeeshops und CD-Läden, die von morgens bis in die Nacht hinein die Straße mit ohrenbetäubender Musik beschallen. Pervin Tans Programmkino, das von Eurimage gefördert wird, zeigt überwiegend europäische Filme. „Ich bringe auch regelmäßig Filme, die zum Beispiel in Venedig oder auf der Berlinale gelaufen sind“, sagt sie, „auch wenn sie keinen Verleiher in der Türkei gefunden haben. Bei den jungen Leuten gibt es eine große Nachfrage nach künstlerischem und engagiertem Kino.“

Im Kino der engagierten Filmfrau wird wahrscheinlich auch „The Silent Death“ laufen, der Film des jungen türkischen Dokumentarfilmers Hüseyin Karabey. In dem hochaktuellen Dokumentarfilm geht es um die so genannten F-Type-Gefängnisse und die Einführung der Isolationshaft für politische Gefangene in der Türkei. Das türkische Justizministerium hat bereits drei solcher Gefängnisse gebaut und acht weitere sind in Planung. Offiziell werden diese Isolationszellen als „Einrichtungen nach europäischem Standard“ legitimiert. Diese „Gefängnisreform“ hat seit Oktober vergangenen Jahres eine riesige Welle von Protesten in der Türkei ausgelöst und bislang 22 Todesopfer gefordert. Weitere 32 Menschen starben, als die Polizei im Dezember insgesamt 20 Gefängnisse stürmte. Ein Ende des Konflikts ist noch nicht abzusehen.

Karabey hat für seinen Film über die umstrittenen Gefängnisse monatelang in Europa recherchiert und zeigt an Hand von beklemmenden Interviews mit politischen Häftlingen und ihren Familien in Deutschland, Italien, Spanien und den USA die realen psychischen und physischen Auswirkungen der Isolationshaft. Die ersten Kontakte zu den Familien hat er über Internet geknüpft, weitere Unterstützung erhielt er von amnesty international. Der dreißigjährige Dokumentarfilmer, ein sanfter ehemaliger Student der Wirtschaftswissenschaften, der sich bereits mit verschiedenen Kurzfilmen über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei einen Namen gemacht hat und sich selbst als „voll assimilierter Kurde“ bezeichnet, weiß, wovon er redet: Er hat bereits einige Freunde durch den Hungerstreik verloren.

„Ich wage gar nicht mehr, die Namen zu lesen“, sagt er, „aus Angst, ich kenne jemanden unter den Opfern.“ Acht Monate hat er selbst vor einigen Jahren als politischer Häftling im Gefängnis gesessen, nachdem er mit anderen Studenten während einer Demonstration für eine Verbesserung des Hochschulwesens festgenommen worden war. Schließlich musste man ihn freilassen, weil nichts gegen ihn vorlag. Aber schlimmer noch als die staatlich kontrollierte Zensur ist für Karabey die mangelnde Zivilcourage, die seines Erachtens nach in der Türkei herrscht.

„Die meisten Intellektuellen und Künstler haben eine Schere im Kopf“, klagt er, „die Zensur braucht gar nicht mehr verordnet zu werden. Und nur wenige wollen heute ein Risiko eingehen.“ So wie zum Beispiel Necati Sonmez, ein bekannter Filmkritiker der linken Tageszeitung Radikal, immerhin eine der Sponsoren des Festivals. Als er von der Redaktionsleitung gebeten wurde, er möge doch bitte seinen Leitartikel über Karabeys Film durch einen anderen Text ersetzen, hat er umgehend gekündigt.