Inklusion im Saarland: Grundrecht statt Großzügigkeit

Menschen mit Behinderungen sollen an der Gesellschaft teilhaben, frei und unabhängig sein können. Doch wie kann Inklusion tatsächlich erreicht werden?

Diskussion am runden Tisch: Wie soll eine inklusive Gesellschaft aussehen? Bild: David Joram

von LAILA OUDRAY

Baumstämme, dutzende Säcke voller Brennholz, schwere Maschinen: Der Innenhof der Behindertenwerkstatt Saarwork im saarländischen Neunkirchen zeigt deutlich, dass hier hart gearbeitet wird. Die Werkstatt besteht aus mehreren großen Industriehallen. In einer von ihnen fand die taz.meinland-Veranstaltung „Inklusion: Das neblige Schlagwort“ statt.

Gemeinsam mit den geladenen Gästen sollte diskutiert werden, wie es mit der Inklusion im Saarland bestellt ist und was noch dringend getan werden müsse. Das Thema lockte viele Zuhörer an: An die 100 Menschen – sowohl mit als auch ohne Behinderung – kamen an diesem Freitagmorgen zusammen. Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung war die Halle gefüllt. Einige Zuhörer mussten stehen oder in den anliegenden Büros sitzen. In der Halle selbst wurden Europaletten um den runden Tisch in der Mitte aufgestellt – der Sitzbereich für das Publikum.

Leistung und Schutz: Wie passt das zusammen?

Gerd Bost, der Leiter von Saarwork, stellte zu Beginn die Behindertenwerkstatt vor. Ihm war es wichtig zu betonen, dass die Beschäftigung hier Arbeit sei. Die Produkte, die hier hergestellt werden, würden in der Industrie und im Handel tatsächlich gebraucht. Es sei keine Beschäftigungstherapie, sondern vollwertige Arbeit.

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Damit war das erste Thema der Diskussionsrunde gesetzt: Jörg Denne, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der saarländischen Werkstatträte, stimmte Bost zu und verlangte eine bessere Vergütung der Arbeit in Werkstätten. Im bundesweiten Durchschnitt verdienten Mitarbeiter dort etwa 180 Euro, zu wenig für ein selbstbestimmtes Leben. Torsten Allerchen, Werkstattrat bei Saarwork, verwies auf das Nachbarland Frankreich, wo der Mindestlohn auch für die Beschäftigten in Werkstätten gelten würde. Dafür gab es lauten Applaus vom Publikum.

Wie Budgetkürzungen die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderung einschränken lesen Sie in unserem weiterführenden Interview mit Sozialarbeiter Thomas Schwarz.

Doch den Mindestlohn einfach auch diesen Angestellten zu zahlen, sei nicht so einfach: Die Mitarbeiter genießen besonderen Schutz. So könnten sie auch bei geringerer Leistung nicht gekündigt werden. Gerd Bost machte deutlich: „Die Mitarbeitenden werden von den Umsatzerlösen der Firma bezahlt. Wenn der Lohn steigen soll, müsste die Politik entweder die Differenz bezahlen oder die Produktivität muss steigen. Dann müsste ich aber Menschen feuern, die langsamer arbeiten, auch wenn sie nicht anders können. Das will ich nicht.“ Die Werkstatt sei Arbeit, aber eben auch angepasst an die Fähigkeiten des Einzelnen.

Anett Sastges-Schank, Landesbeauftragte für Inklusion in Schulen und Kindertageseinrichtungen, betonte, das Problem sei, dass die Wirtschaft immer noch festlegt, was Leistung tatsächlich sei. Das gelte auch in den Schulen. Jürgen Bender, saarländischer Pflegebeauftragter, schlägt vor: „Wenn Rentner und Hartz IV-Empfänger etwas dazu verdienen dürfen, dann könnte man das auch für die Werkstätten einführen.“ Mehrleistungen oder Prämien sollen somit nicht vom Lohn abgezogen werden. Wieder Applaus und zustimmendes Gemurmel von den anderen Diskussionsteilnehmern.

Politische Teilhabe muss einfacher sein

Auch die politische Arbeit wurde kritisiert: Sie müsse barrierefrei sein. Dafür müsse, so Diethard Geber, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten im Saarland, die leichte Sprache in der Politik weiter verbreitet werden: „Erst, wenn ich etwas verstehe, kann ich es auch ändern. Die Behördensprache muss einfacher werden.“ Doch nicht nur die Sprache steht der politischen Teilhabe im Weg. Es seien die eingeschränkten Befugnisse, wie Dunja Fuhrmann, Behindertenbeauftragte der Stadt Saarbrücken, deutlich macht.

Die Behindertenbeauftragten der Kommunen und des Landes sind nicht auf hauptamtlicher Basis angestellt. „Die Interessen zu vertreten ist kein Nebenjob. Man muss Überzeugungsarbeit leisten, Netzwerken, Ansprechpartner sein. Das braucht Zeit.“ Bender, der ehrenamtlicher Pflegebeauftragter ist, stimmt zu: „Ich bin jeden Tag unterwegs, auch am Wochenende. Das kann ich nur schaffen, weil ich Rentner bin und mir meine Zeit selbst einteilen kann.“

Doch nicht nur die mangelnde Zeit führt zu Konflikten. Ehrenamtliche Beauftragte haben weniger Interventionsmöglichkeiten: Sie haben weder Rede- noch Antragsrecht. „Ich kann Empfehlungen ausschreiben, aber ich weiß, dass sie in den Müll geworfen werden. Da mache ich mir Mühe für nichts“, erzählt Fuhrmann. Sie hoffe, dass mit der neuen Regierung zumindest die Stelle des Landesbeauftragten hauptamtlich werde.

Politische Gestaltung zu ermöglichen, ist vor allem für Fuhrmann eine wichtige Angelegenheit: „Ich weiß, dass Leute schon genervt von mir sind. Wenn ich mit der Oberbürgermeisterin von Saarbrücken spreche und sie mir sagt: 'Gucken Sie doch mal, was wir schon alles geschafft haben' – soll ich da klatschen? Die Politik ist dazu verpflichtet. Es gibt die entsprechenden Gesetze. Der Polizist klatscht doch auch nicht, wenn ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halte.“ Ein leidenschaftliches Plädoyer, das für viel Applaus sorgt.

Fordern, denn das ist ihr Recht

Grundrecht statt Großzügigkeit: Diese Haltung teilten alle Diskussionsteilnehmer. Gerber fasst zusammen: „Wir müssen konkreter fordern, denn was uns gut tut, hilft allen.“ Die Erfahrungen des Publikums scheinen diese These zu stützen. Ein Mann aus der Nachbargemeinde Ottweiler erzählt, dass er Schwierigkeiten habe, nach der Arbeit in der Werkstatt nach Hause zu fahren, weil die Busse zu selten fahren.

Geber greift diesen Punkt auf und erzählt von Menschen mit Behinderungen, die Jobangebote ablehnen müssten, weil sie nicht zur Arbeit fahren könnten. Viele weitere Wortmeldungen folgen. Sie erzählen von Bahnhöfen, die für sie nicht erreichbar sind.

Diese Mängel seien aber nicht nur ein Problem für Menschen mit Behinderungen, sondern für alle, die kein Auto haben. Von einer Barrierefreiheit an Bahnhöfen würden auch andere Gesellschaftsgruppen profitieren: Mütter und Väter zum Beispiel, die mit Kinderwagen unterwegs sind.

Zwei Stunden lang wurde intensiv und wahrhaftig über Inklusion diskutiert, nicht nur die Teilnehmer am runden Tisch, sondern vor allem auch das Publikum. Menschen, die von ihrem Leben als Mensch mit – oder ohne – Behinderungen erzählten.

Nicht immer waren sie einer Meinung. Doch alle arbeiten gemeinsam an einer inklusiven Gesellschaft, ganz nach dem Motto: „Jeder, wie er kann.“ Oder, wie eine Mitarbeiterin von Saarwork treffend zusammenfasste: „Wenn einem Schuhgröße 40 zu groß ist, nimmt man eben die 39. Das heißt aber nicht, dass der Fuß jetzt schlechter ist.“