„Kleinbürgerliche Moral“

RADIO Wie der heutige Staatsrat Horst Frehe einen DDR-Oppositionellen in den Westen schmuggelte

■ 60, studierte in der DDR Theologie. In Bremen wurde er bekannt durch seine Kneipe „Oblomow“, heute ist er Leiter des Geschichtenhauses.

taz: Herr Mickan, Sie waren am 13. August 1961 zehn Jahre alt – haben Sie in der schönen Lausitz vom Mauerbau Kenntnis genommen?

Ulrich Mickan: Ja, ich habe jeden Abend mit meinem Großvater Rias gehört. Das war ein tägliches Ritual. Der Rias brachte alle politischen Informationen. Radio war unser Tor zur Welt.

Es gab kein Fernsehen?

Die Lausitz liegt im „Tal der Ahnungslosen“, wie man in der DDR sagte, da gab es kein West-Empfang. Wir hatten auch keinen Fernseher.

Was hat der Mauerbau dem Großvater bedeutet?

Die Stimmung bei uns zu Hause war immer: Das DDR-Regime kann sich nicht mehr lange halten. Das funktioniert alles nicht. Der Sozialismus war ja lange nicht in unser Dorf vorgedrungen. Eines Tages stand ein Lautsprecherwagen vor meinem Kinderzimmer-Fenster und mein Vater wurde aufgefordert, sich der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft anzuschließen, sonst würde er als Klassenfeind gelten. Und die FDJ ist auf die Dächer geklettert und hat die nach Westen ausgerichteten Radio-Antennen abgeknickt.

20 Jahre später mussten Sie raus aus diesem Land. Konnte man da nicht leben?

Doch. Ich musste aufgrund konkreter Umstände raus. Horst Frehe hatte zwei, drei Jahre lang regelmäßig Wagenladungen mit Büchern aus dem Westen über die Grenze geschmuggelt, die ich mit ihm an einer Feldscheune an der Transitstrecke abgeladen und dann in der politischen Szene verteilt habe.

Wann war das?

1976 bis 1978. Irgendwann dann wurden Bekannte von mir bei Stasi-Verhören auffällig deutlich nach mir befragt. Da wurde es brenzlig. Die hätten mich für Jahre in den Knast gesteckt.

Und dann sind Sie im Kofferraum des heutigen grünen Sozial-Staatsrates Horst Frehe, wo sonst die Bücherkisten unkontrolliert einreisten, ausgereist?

Ja. Die Ostgrenzer mit ihrer kleinbürgerlichen Moral haben bei Behinderten großen Abstand gehalten, darauf haben wir spekuliert. Das Auto von Horst Frehe musste an jenem 2. Dezember 1978 lange an der Grenze warten, aber aufgemacht haben sie den Kofferraum nicht. Als Horst Frehe einen Tag später meine Frau rausholen wollte, ist er aufgeflogen. Er hat mehrere Jahre Haftstrafe bekommen, meine Frau auch. Aber die Knast-Verwaltung konnte mit einem Mann im Rollstuhl nichts anfangen und hat ihn nach drei Wochen in den Westen abgeschoben. Meine Frau kam frei, als Honecker ein Jahr später eine Amnestie gewährte. Interview: kawe

Nordwestradio, 15.05 Uhr