Rätselraten im Wald

Stelen am Stadtrand: Ein neues Holocaust-Mahnmal im niedersächsischen Soltau erinnert an eine Häftlingshatz im Zweiten Weltkrieg – und erweist zugleich seine eigene Unzulänglichkeit

Ob ein künstlerisches Mahnmal die beste Umsetzung des Gedenkens ist, bleibt indes bedenklich Die Stelen entfalten nur in einer pulsierenden Metropole auf den Ruinen einer imperialen Großstadt ihren Sinn

VON MAXIMILIAN PROBST

Soltau im heutigen Niedersachsen war in der Zeit des „Dritten Reiches“ ein Schienenverkehrsknotenpunkt. Der Großteil der Juden aus den Niederlanden wurde hier entweder ins Aufenthaltslager Bergen-Belsen, meistens aber direkt in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor deportiert. Und hier ereignete sich am Kriegsende genau auch die dunkelste Geschichte des kleinen Städtchens: Nach einem Bombenangriff bleiben Züge mit KZ-Gefangenen auf den Gleisen liegen. Die Häftlinge flüchten und verstecken sich im Wald. Die Bevölkerung wird aufgerufen, sich an der Verfolgung zu beteiligen. Die Suche wird zur Hatz: Kleine Gruppen aus Volkssturmmännern und Jungvolk durchkämmen das Gelände.

Die Häftlinge werden zusammengetrieben. Wer nicht schon auf der Flucht erschossen wird, kommt wenig später, „ordnungsgemäß verurteilt“, in Massenliquidationen um. Notdürftig im Waldboden verscharrt, werden nach Kriegsende die Überreste von 90 KZ-Häftlingen gefunden. Ein neue Mahnmal in Soltau soll an beides erinnern: an diese schreckliche Tat und an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors überhaupt.

Es steht am Rand der Stadt. Trostlose Reihenhaussiedlungen prägen den Weg dorthin. In unmittelbarer Nachbarschaft liegt das „Neuro-Orthopädische Krankenhaus und Zentrum für rehabilitative Medizin“. Wenige Meter hinter dem Mahnmal verläuft die eingleisige Bahntrasse zwischen Soltau und Schneeverdingen. Jenseits davon erstreckt sich ein Forst- und Naherholungsgebiet. An diesem Ort bleiben 1945 die Züge mit den KZ-Gefangenen nach dem alliierten Bombenangriff liegen.

Nun erscheint der Gedanke ans Gedenken erst einmal begrüßenswert. Ob ein künstlerisches Mahnmal dessen beste Umsetzung ist, bleibt indes bedenklich. Einwände gegen die Denkmalskultur hatte schon Robert Musil in seinem „Nachlass zu Lebzeiten“ formuliert. So sei das Auffallendste an Denkmälern, „dass man sie nicht bemerkt“. Aufgestellt um Aufmerksamkeit zu erregen, seien sie gleichzeitig „gegen Aufmerksamkeit imprägniert“. Musil hat für dieses Paradox auch eine Erklärung bereit: Die Beständigkeit des Denkmals minimiere seine Eindruckskraft, so, wie wir ein andauerndes Geräusch nach einer Weile gänzlich überhören. Nach dieser Logik fände ein fataler Umschlag statt: Gerade diejenigen, derer man gedenken möchte, würde man „gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals ins Meer des Vergessens“ stürzen. Nicht weniger fundamental wendet sich der Philosoph Alain Badiou gegen die Denkmalskultur: „Anders als häufig gesagt wird, ist es das Denken, das eine Wiederholung verbietet, nicht das Gedächtnis.“ Ganz ähnlich kritisierte Giorgio Agamben die Tendenz, Auschwitz zu einem schlechthin Unverstehbaren zu stilisieren. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass ein Mahnmal seinen Sinn nur erfüllt, wenn es darauf zielt, begreiflich zu machen, was in Auschwitz und anderswo geschah.

Eines der wenigen mit diesem Anspruch gebauten Mahnmale ist Peter Eisenmans Stelenfeld in Berlin. Und spannenderweise sind es gerade die dafür entworfenen Musterstelen, die jetzt in Soltau aufgestellt wurden. Auf der kleinen Lichtung sind sie zu einem Ensemble aus sechs brusthohen Betonquadern, die auf zwei mächtige, vier Meter hohe Stelen zulaufen, gruppiert worden. Bilden die 2.711 Stelen in der Hauptstadt aber einen eigenen, begehbaren, leeren Raum inmitten der Stadt, so stehen die Muster in Soltau reichlich fremd in der Gegend herum.

Zwar sind auch hier die Stelen immer leicht versetzt angeordnet und so, dass man immer nur allein zwischen ihnen hindurch gehen kann; zwar sinken sie auch hier je länger man hinschaut umso schräger in den Boden; zwar wirkt auch hier der Beton zuerst kühl und abweisend und bekommt erst mit den langsam hervortretenden Grauschattierungen, feinen Rissen und kleinen Löchern eine verlockend haptische Qualität: Nur fehlt ganz einfach der Kontext, der aus diesen verstreuten Sinneseindrücken eine Erfahrung machen könnte.

Das Berliner Stelenfeld steht, wie es Eisenman selber ausdrückte, im Kontext „der Enormität des Banalen“: Scheinbar rational aufgebaut, soll es die Instabilität dieser ins Übergroße gewachsenen Ordnung erweisen. Darum entfalten die Stelen nur en masse ihren Sinn und auch dann nur in einer pulsierenden Metropole auf den Ruinen einer imperialen Großstadt. Am Soltauer Mahnmal zwitschern die Vögel und wenn sich der Wind legt, hört man das ferne Hintergrundrauschen einer Landstraße.

Am Waldrand hat man zwei Tafeln angebracht: „Bürger schont euren Erholungswald“ steht auf der einen. Die andere bietet einen Überblick über die durch den Wald führenden „Nordic-Walking-Parcours“.

Beklemmend: An diesem Ort sind die Stelen zur selben prinzipiellen Unverständlichkeit verurteilt, mit der man sich seit je die Shoa vom Leib zu halten sucht. Und so tut es auch nichts mehr zu Sache, dass in geschlagenen zwei Stunden nicht einer der Jogger, nicht einer der Power-Walker seine Schritte auch nur verlangsamt hat, als er das Mahnmal links liegen ließ.

Ärgerlicher ist da schon der Gedanke, dass dieses falsche Mahnmal an einem denkwürdigen Ort offenbar überhaupt nur errichtet wurde, weil es sich mit dem Namen eines internationalen Stararchitekten verbinden ließ; dass auch hinter diesem Mahnmal nur der Soltauer Wille zum Spektakel lauern könnte.