Weltgericht im Hinterhof

Wie Mali und Washington zusammenhängen. In „Bamako“ von Abderrahmane Sissako wird Weltbank und Internationalem Währungsfonds der Prozess gemacht. Schauplatz ist ein Haus in Bamako, der Hauptstadt von Mali. Dabei gelingt etwas Seltenes: Sissako findet ein Genre für die Globalisierung

von BERT REBHANDL

Auf den Kanarischen Inseln und im südlichen Italien wird Europa immer wieder mit dem afrikanischen Elend konfrontiert. Menschen riskieren ihr Leben, um den Kontinent zu verlassen, auf dem sie für sich keine Perspektive mehr sehen. Die Bilder von überfüllten Booten und angeschwemmten Toten sind auch eine Metapher für das Scheitern der Entkolonialisierung. Vor einem halben Jahrhundert wurden die meisten Länder in Afrika „frei“, aber von einer Chancenfreiheit im westlichen Sinn kann kaum die Rede sein. „Statt Rechtsstaat und Demokratie bekamen die Völker Afrikas nur die Kehrseite der Medaille zu sehen: wirtschaftliches Chaos, soziales Elend und politische Instabilität mit Massakern bis zum Völkermord“, schreibt Hans-Christoph Buch in „Black Box Afrika. Ein Kontinent driftet ab“.

Wie schwierig es ist, die Schuldigen zu finden, zeigt der in Mauretanien geborene und in Mali aufgewachsene Filmemacher Abderrahmane Sissako in „Bamako“. Er erzählt darin von einem außergewöhnlichen Gerichtsverfahren: Die Sache Afrika gegen die internationalen Finanzinstitutionen wird in einem typischen Hof eines afrikanischen Hauses in Bamako, der Hauptstadt von Mali, verhandelt. Ein Richter und mehrere Beisitzer sind da, es gibt Vertreter der Anklage und der Verteidigung und eine lange Liste von Zeugen. Das Publikum sitzt auf Plastikstühlen oder hört auf der Straße über Lautsprecher mit, wie engagierte Leute ihre Angelegenheiten gegen die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds vertreten.

In „Bamako“ steht dieses Verfahren – ein umgekehrter „Schauprozess“, wenn man so will, bei dem die Ohnmächtigen zumindest die Inszenierung bestimmen können – im Mittelpunkt. Darum herum erzählt Abderrahmane Sissako aber noch eine ganze Menge kleiner und kleinster Geschichten, die mit dem Prozess nur mittelbar zu tun haben. Sie bilden eine distanzierende Kommentarspur. Die große Geste, in Bamako zwei zentrale Institutionen der westlichen Nachkriegsordnung zur Anklage zu bringen, verliert sich fast ein wenig zwischen den alltäglichen Verrichtungen, den einsilbigen Wortwechseln, dem stillen Leiden eines Sterbenden und den zahlreichen anderen Details, die Sissako zwischendurch aufliest.

Der Prozess ist ein Spektakel, das der Film „Bamako“ dezidiert unspektakulär inszeniert. Der Regisseur interessiert sich auch weniger für ein Urteil als für das Verfahren selbst, dessen Abschluss zu zeigen ohnehin nur eine traurige Ironie wäre. Indem er die Zeugen, die sich ausdrücklich vor dem Gericht äußern, mit den zufälligen Zeugen, die einfach vor Ort sind, konfrontiert, hebt Sissako den Film auf eine andere Ebene. Er erfindet etwas, was schon so lange gesucht wurde: ein Genre für die Globalisierung, eine Form, von den Zusammenhängen zu reden, die zwischen Washington, wo die Weltbank und der IWF ihren Sitz haben, und Bamako, wo die Familie und Freunde von Abderrahmane Sissako ihren Sitz haben, hergestellt werden. Für viele Menschen, die dem Prozess der Globalisierung kritisch gegenüberstehen, stellen die genannten Institutionen die Verlängerung des Kolonialismus unter den Bedingungen einer „freiheitlichen“ Weltordnung dar. Und viele der Zeugen, die in Bamako vortreten, bekräftigen die entsprechenden Argumente: dass der Schuldendienst wichtiger genommen wird als der Aufbau von Infrastruktur, dass die Kredite als politische Druckmittel eingesetzt werden, dass Hilfsgelder in die falschen Kanäle gelenkt werden.

Diesen Diskurs, der innerhalb der Expertensprache verbleibt, hebt Sissako aber schon sehr früh im Film auf: Ein älterer Mann, der noch nicht an der Reihe ist, möchte gleich sprechen. Er wird noch einmal nach hinten geschoben; das Verfahren hat eben seine Regeln. Später kommt er dann doch noch zu Wort, und es erweist sich, dass seine Aussage mehr oder weniger unverwertbar ist – er singt mehr, als er spricht, er vermag zu überzeugen, aber er vermag keinen Beweis zu führen. Sein Beitrag ist so sehr in der lokalen afrikanischen Kultur verwurzelt, dass er vor der abstrahierenden Instanz eines an internationalen Normen orientierten Rechts an Wert verliert.

„Bamako“ findet sein Zentrum gerade in dieser Diskrepanz – was auf den ersten Blick die Attraktion des Films darstellt (dass man das Recht endlich einmal gegen die Institutionen wendet, die immer schon so agieren, als wären sie im Recht), ist für Sissako nicht genug. Er problematisiert das Recht selbst, indem er den Ort der Rechtsprechung eben keinen funktionalen Gerichtssaal sein lässt, sondern einen Ort, an dem in erster Linie gelebt wird. Das Nebeneinander unterschiedlichster Vorgänge und des unbeirrt fortgesetzten Prozesses ist sicher der eindringlichste Effekt von „Bamako“ – ein Verfremdungseffekt, der schon in der Idee eines derartigen Verfahrens angelegt ist. Besonders markant zeigt er dies, als sich die Leute abends zum Fernsehen hinsetzen, dann aber einen Film im Film zu sehen bekommen, der wie in einer allegorischen Verdichtung zur mehrfachen Selbstauskunft von „Bamako“ wird.

Es läuft eine Art Spagetti-Western, der in den Straßen von Timbuktu spielt, einer früheren Metropole am Niger, die nun wie eine heruntergekommene Wüstenstadt wirkt. In den Gassen von Timbuktu findet eine Schießerei statt, während der es die lokalen Bewohner mit einer „wild bunch“ aus dem Westen zu tun bekommen. Unter den Darstellern finden sich markante Namen: Der afroamerikanische Schauspieler Danny Glover, der palästinensische Filmemacher und Schauspieler Elia Suleiman und der französische Intellektuelle Jean-Henri Roger, ehemals Mitglied der Groupe Dziga Vertov, der auch Jean-Luc Godard eine Weile angehörte. Sissako tritt in dieser surrealen Szene selbst auf, er gehört damit auch zu der Bande der herumziehenden Cineasten, die auf ihre Weise für Gerechtigkeit sorgen – indem sie „schießen“ und manchen Gegenschuss einstecken. Sissako macht hier deutlich, welche Position das Kino in einem Land wie Mali einnimmt. Es kommt nicht aus dem Volk, wie die Zeugen. Es kommt aus der Fremde, es ist keine autochthone Kunst, sondern eine Ausdrucksform, die dem Volk ähnlich gegenübersteht wie die Institutionen, von denen im Prozess die Rede ist.

Die Karriere von Abderrahmane Sissako im internationalen Autorenkino enthält zahlreiche Paradoxien, denen er mit dieser Spagetti-Western-Vignette einen komischen Ausdruck verleiht. Er studierte noch vor dem Ende des Kommunismus an der Moskauer Filmhochschule, später lebte er in Paris. Seine Kurzfilme waren nur einem kleinen Publikum bekannt, als er 1997 (neben Alexander Sokurow, Jon Jost, Harun Farocki und anderen) von Catherine David in ihre sehr eklektische Auswahl von sieben offiziellen Filmemachern für die documenta X aufgenommen wurde. Sein Beitrag „Rostow-Luanda“ begriff schon alle späteren Themen von Sissako in sich: Auf der Suche nach einem Freund im angolanischen Luanda sind auch die früheren Stationen seiner Reise (von Kiffa in Mauretanien über das russische Rostow bis nach Paris und in die ehemalige DDR) ständig gegenwärtig.

Das Warten und das Gefühl, am falschen Ort zu sein, spielen in allen Filmen von Sissako eine wichtige Rolle. „Bamako“, der im Haus seines eigenen Vaters gedreht wurde, erweckt nun den Eindruck, dass nicht mehr so sehr die Reflexion persönlicher Entfremdung im Vordergrund steht. Es geht auch nicht mehr um die verlorenen Illusionen, die Sissako nach dem Zusammenbruch des Kommunismus beschäftigt haben. Er sucht nun nach Möglichkeiten einer postideologischen Verständigung über die Probleme seiner Herkunftsländer.

Dass er dabei von Paris aus agiert, ist kein Zufall, sondern typisch für das afrikanische Kino, das ohne die finanzielle Unterstützung der ehemaligen Kolonialmacht nicht existieren würde. Zur Logik des Weltkinos gehört es aber auch, die Länder nach ihren kinematografischen Repräsentanten zu ordnen. So steht dann eben Abderrahmane Sissako für die Subsahara in Westafrika.

In „Bamako“ wird dieses Prinzip der „einen Stimme“ ausdrücklich aufgehoben: Der Film ist auf eine fast irritierende Weise vielstimmig, das „audiatur et altera pars“ wird hier so weit getrieben, dass zwei Vertreter des Westens mit längeren Plädoyers in das Gerichtsverfahren eingreifen. Sie verkörpern die Institutionen, die bei aller Kritik doch immer an langfristige Lösungen glauben. Sissako aber ist an Abstraktionen nicht gelegen: Der Alltag hat seine eigenen konkreten Lösungen. Das Färben von Tüchern, das Spinnen von Baumwolle, das Rauchen einer Zigarette, das Tagträumen sind jeweils Plädoyers in eigener Sache. „Bamako“ lässt sich in keiner Sekunde dazu verleiten, irgendeine dieser Handlungen zu privilegieren oder zu kritisieren. Hier tagt ein Weltgericht in einem Hinterhof, und es kann kein Zweifel daran herrschen, dass ein langer Weg durch die Instanzen bevorsteht, wenn es zu irgendeinem sinnvollen Urteil kommen soll. Immerhin aber bekommen die Menschen in Afrika eine Idee davon, dass ihre Sache an ihrem eigenen Ort verhandelt wird.

„Bamako“, Regie: Abderrahmane Sissako. Mit Aissa Maiga, Hélène Traoré u. a., Mali/Frankreich 2006, 115 Min.