Eine große Erzählung entsteht

Leben im Fall-out des Karikaturenstreits: Die Kritiker der Absetzung von „Idomeneo“ an der Deutschen Oper leben in der gleichen Fantasiewelt wie die gescholtene Intendantin

Wann hat es das schon mal gegeben? Die CDU-Bundeskanzlerin mischt sich höchstpersönlich in eine Debatte um den Spielplan einer Oper ein und fordert, dass eine Inszenierung, an deren Ende neben Mohammed auch Jesus der Kopf abgeschlagen wird, nicht abgesetzt werden dürfe. Von den Dutzenden anderen Politikern ganz abgesehen, die in verschiedenen Erregungsabstufungen sagen, was Angela Merkel auch sagt: dass die Absetzung von Mozarts „Idomeneo“ an der Deutschen Oper „unerträglich“ sei und „wir“ aus Angst vor radikalen Islamisten nicht „immer mehr zurückweichen“ dürfen. Toll: Radikale Religionskritik wird Staatsdoktrin. Ein bisschen wenigstens.

Ja, es ist billige Empörung. Risikoloser war es selten zu haben, sich auf die Seite der Aufklärung zu schlagen – der Gegner ist ja praktischerweise mindestens unsichtbar, wenn es ihn denn überhaupt gibt. Von realen Drohungen durch Islamisten ist ja nichts bekannt. Nach allem, was man bisher weiß, beruht die ganze Aufregung auf nichts weiter als auf dem Anruf einer anonymen Operngängerin bei der Polizei, die diese kurz nach dem Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen darauf hinwies, dass in Hans Neuenfels’ „Idomeneo“-Inszenierung am Schluss der abgeschlagene Kopf Mohammeds gezeigt wird. Was der Empörung zwar nichts von ihrer Berechtigung nimmt. Trotzdem sollte man sich wahrscheinlich eher fragen, was mit einem Innensenator los ist, der auf der Grundlage dieser Daten Angst bekommt, die Deutsche Oper werde demnächst in die Luft gejagt. Dass Paranoia Grundvoraussetzung für diesen Job ist, darf als bekannt gelten. Aber so schlimm?

Das eigentlich Interessante an dieser Affäre ist aber weder die Berliner Provinzposse noch das bestenfalls ungeschickte Verhalten von Kirsten Harms, der Intendantin der Deutschen Oper, und im Grunde auch nicht die Verteidigung der Freiheit der Kunst. Es ist die große Erzählung, die sich in der überwältigenden Einigkeit abzeichnet, mit der die Öffentlichkeit auf die Absetzung der Oper reagiert. Nennen wir es: Leben im Fall-out des Karikaturenstreits – oder „wir“ und die „anderen“.

Stärker als irgendein Ereignis der letzten Jahre dürfte der Karikaturenstreit mit seinen Bildern vom Verbrennen dänischer Fahnen durch muslimische Spinner im europäischen Alltagsbewusstsein den Eindruck hinterlassen haben, dass es da draußen Leute gibt, die die Art und Weise bedrohen, wie man im Westen lebt und denkt. Es ist eine Erzählung, die ans Eingemachte geht, und dass muslimische Würdenträger ständig Entschuldigungen für Äußerungen fordern, über die man sich im Westen lieber streitet, verstärkt sie noch.

Nun haben große Erzählungen dieser Art die Tendenz, alles an sich zu reißen, was sich in ihrem Umfeld findet. Sie funktionieren wie eine große Verbindungsmaschine. Sie haben die Macht, Sinn zu stiften, wo vorher keiner war. Denn was haben etwa die Islam-Konferenz des Innenministeriums mit der Absetzung der Oper zu tun? Nichts, außer dass beides irgendwie mit dem Islam zu tun hat. Trotzdem bringt jede zweite Zeitung, jede zweite Radiosendung die beiden in Zusammenhang. Und nicht nur das: Diese Art der Geschichte vom „wir“ und den „anderen“ funktioniert eben auch, wenn Letztere reine Fiktion sind.

So falsch es ist, eine Oper abzusetzen, weil man sich von unliebsamen Besuchern bedroht fühlt – all die Politiker und Intellektuellen, die nun davor warnen, vor dem „islamistischen Terror“ einzuknicken, leben in der gleichen Erzählung: Mal befindet sie sich in Übereinstimmung mit der Realität, in diesem Fall handelt es sich aber um eine Fantasiewelt. Und das ist nie gut, wenn man glaubt, über die zentralen Fragen des eigenen Selbstverständnisses zu sprechen.

TOBIAS RAPP