Mapuche können das!

Chiles größte indigene Minderheit ist selbstbewusster geworden. Auch Präsidentin Bachelet hat den Mapuche Reformen zugesagt

VON COSIMA SCHMITT

Er trägt zur Jeans gerne Poncho. Eine Mapuche-Puppe baumelt an seinem Schlüsselbund. Vicente Mariqueo schätzt die kulturelle Vielfalt. Er gießt sich chilenisches Pils in bayerische Bierhumpen. Neben das Poster von einem Mapuche-Treffen hat er ein Foto seines englischen Reihenhauses gepinnt. „In Chile denken die Menschen gerne in Kategorien: die Mapuche, die Chilenen, die Ausländer. Dabei tragen wir längst alle viele Einflüsse in uns.“ Mariqueo sitzt vorm Holzofen, knabbert an einer Chilischote und lächelt. „Wir Mapuche haben hundert Jahre Leid hinter uns. Aber jetzt geht es aufwärts.“

Die Mapuche sind Chiles größte indigene Minderheit – und Meister der Selbstverteidigung: 300 Jahre lang widerstanden sie den kolonialen Eroberern, erst 1881 unterwarf sie der chilenische Staat. Sie verloren fast ihr gesamtes Land, auf dem fortan Großgrundbesitzer wirtschafteten. Dem Bauernvolk blieben nur ein paar karge Äcker – ein Zustand, den Vordenker wie Mariqueo nicht hinnehmen wollen. „Der heutige Staat ist nicht schuld an den Untaten der Vorfahren. Aber unsere jetzige Misere könnte er sehr wohl lindern.“

Mariqueo, den hier alle „Don Vicente“ nennen, ist ein Routinier des friedlichen Protests. In den Sechzigern schon gründete er an der Uni die erste Mapuche-Gruppe, in den Siebzigern floh er vor Pinochets Folterern ins englische Exil. Erst als Rentner kehrte er in sein Haus im südchilenischen Temuco zurück. Heute brutzelt hier in seinem Garten ein Schwein überm Holzfeuer. In zwei Eichenfässern neben der Haustür gärt Apfelmost. Mariqueo fährt gern heim zum Stammhof der Familie und lädt Naturkost in den Kofferraum. „Die Wurzeln pflegen“ nennt er das.

Damit liege er im Trend, sagt Mariqueo: „Mapuche sein, das ist wieder in. Die Jungen wollen nicht mehr verschämt verbergen, woher sie kommen. Sie lernen sogar wieder unsere Sprache, das Mapudungun.“ Die Mapuche-Jugend fühlt sich gestärkt durch ein neues Klima der Offenheit. Seit März regiert die Sozialistin Michelle Bachelet das Land. Sie ist das erste Staatsoberhaupt, das einst unter Pinochet im Foltergefängnis gesessen hat. Bachelet gilt als sensibilisiert für Fragen der Menschenrechte – und sie hat den Mapuche Reformen zugesagt.

„Das wird ja auch Zeit“ sagt Veronica Carrasco. „Chile ist das reichste Land Südamerikas. Aber hier haben von 2.500 Familien gerade mal 300 fließendes Wasser.“ Carrasco ist Stadtteilchefin im Ort Galvarino. 13.000 Menschen leben hier, fast alle Mapuche, inmitten von Wiesengrün und Eukalyptusbäumen. Carrasco wohnt mit Mann und sechs Kindern in einem roten Holzhaus, Seite an Seite mit ihrem Vieh: Acht Kühe dösen in der Mittagssonne. Zehn dralle Hennen picken im Schlamm. Aus alten Blechstangen hat Carrasco zwei Fußballtore zusammengeschraubt. „Das ist so ein schöner Ort, ein Paradies für Kinder. Wenn er nur nicht so arm wäre.“

Veronica Carrasco trägt eine robuste Wolljacke zur braunen Schlaghose, sie erinnert eher an eine Arbeiterführerin als an jene Mapuche mit Haube und Zopf, die in Santiago von den Touri-Postkarten lächeln. „Ich freue mich ja, dass die Demokratie uns elektrisches Licht gebracht hat“, sagt Carrasco. Dass die Regierung jetzt modernes Saatgut verteilt. Und dass sie Gewächshäuser bezuschusst, damit die Bauern auch im Winter Gemüse ziehen können. Doch das Grundproblem bleibt. „Jeder spaziert hier mit ein paar Kräutern oder einer Kiste Paprika zum Markt. Das reicht gerade so zum Überleben, da kann man nichts investieren.“

Schon ihre Oma wohnte hier, auf den paar Hektar Wald und Feld. Doch für ihre Kinder wünscht sie sich eine andere Zukunft. „Wir leben wie der Rest von Chile vor 50 Jahren. Meine Kinder sollen wenigstens einen Telefonanschluss haben und ein Haus aus Stein.“ Ihre älteste Tochter studiert jetzt – eine kleine Sensation. Zwar hat der Staat studierwilligen Mapuche ein paar Quotenplätze reserviert, doch die Dorfschulen sind so schlecht, dass kaum ein Jugendlicher die Uni-Eignungsprüfung schafft. Carrasco kontert mit Managementtalent. Ihren Kindern hat sie zerlesene Klassiker und ein paar Lexika organisiert. Und der Dorfjugend will sie in ihrem Garten ein Schwimmbecken anlegen. „Hier hat kein Kind das Geld, in Urlaub zu fahren. So hätten sie wenigstens ein bisschen Spaß.“

Er müsse eben improvisieren, sagt auch der Bürgermeister Miguel Hernández Saffirio – ein Landespolitiker, den entweder Idealismus oder ein Karriereknick in die Mapucheregion verschlagen hat. Und der hier auffällt mit seiner blassen Haut, dem gestelzten Stadtspanisch und den frisch gebügelten Anzugfalten.

Hernández residiert zwischen Kirche und Bushaltestelle und ficht einen Formularkrieg aus. Er hat für Galvarino die ersten beiden Ärzte der Stadtgeschichte erkämpft. Er telefoniert sich durch die sozialen Stiftungen und sucht Sponsoren für ein Kulturzentrum. Und er erprobt den moralischen Aufbau im Kleinen: „Galvarino, Capital del pueblo Mapuche“ – dieses Schild ließ er am Ortseingang aufstellen. „Ich möchte die kulturelle Identität stärken“, sagt er.

Denn auch hier trägt die Jugend eher MTV-Look als traditionelle Tracht, sie feiert lieber Halloween als die alten Rituale am Rehue, dem heiligen Pfahl auf dem Hauptplatz. Und als wäre die globalisierte Popkultur nicht Bedrängnis genug, als wären die Mapuche nicht ohnehin hin- und hergerissen zwischen Großväterbräuchen und Moderne, kommen neuerdings auch noch radikale Evangelisten, die hier ihre Version des Gottesworts predigen. Während die katholische Kirche es hinnimmt, dass ihre hiesigen Schäflein auch traditionelle religiöse Bräuche pflegen, sind die neuen Missionare streng: Eine Zeremonie am Rehue ist für sie Teufelswerk.

Doch es gibt auch Stimmen, die nach einem Umdenken verlangen. „Der Staat muss anerkennen, dass die Mapuche eine eigene Kultur haben. Und dass diese Kultur einen Wert besitzt“, sagt der Bürgermeister. Noch aber sei das Denken vieler von der Pinochet-Doktrin „Wir sind alle Chilenen“ geprägt, die in Diktatortagen ein willkommener Vorwand war, indigene Traditionen zu unterdrücken. „Die Haltung des Staats gegenüber den Mapuche ist oft die eines Vaters, der seinen Kinder Geschenke macht“, sagt er. „Doch die Menschen hier brauchen keine Almosen. Sie brauchen gesicherte Rechte.“

Noch immer sind es die Mapuche-Gemeinden, die die Liste der ärmsten Orte Chiles anführen. Zwar wächst Chiles Wirtschaft rasant. Doch der Boom hat die soziale Kluft eher vergrößert. Die städtische Oberschicht vergnügt sich in Golfclubs und Designerboutiquen. Viele Mapuche aber können nicht einmal ein Bett für ihr Baby kaufen. Zwar hat die Regierung einige Gesetze zu ihren Gunsten erlassen, sendet Entwicklungshelfer aus und kauft Mapuchedörfern auch dann und wann ein paar Hektar Ackerland – doch viele werten dies als Alibiaktionen.

„Die Regierung erlässt Gesetze, die uns schützen sollen, und dann hält sie sie nicht ein“, sagt etwa der Kleinbauer Enrique Ñanco. Er wohnt in einem Holzhaus im Dorf Matria Catrilao, umgeben von Wiesengrün und Wald. Schaffelle hängen über einer Wäscheleine. Eine Schweinefamilie wälzt sich im Schlamm. Ein Idyll aus Weiden und Bach und Himbeersträuchern. Ein zerstörtes Paradies, findet Ñanco. Denn der Feind lebt gleich nebenan, nur ein paar Meter den Feldweg abwärts. Ñanco hat Reihen langer Hallen aufgestellt, aus denen Hahnenschreie dringen und Schwaden von Ammoniak: ein Geflügelgroßbetrieb mitten im Mapuche-Dorf. „Jetzt wimmelt es hier von Ratten. Denn die Leute werfen ihr totes Geflügel einfach in eine Kuhle“, sagt Ñanco. Sein Vorwurf: Der Betrieb stehe viel zu nahe an den Wohnhäusern. Der Wind blase den Gestank bis in sein Schlafzimmer. „Außerdem verschmutzt die Geflügelfarm das Wasser des Bachs, der durch das Farmgelände fließt.“

Seit Jahren schon widmet er sich dem Kampf gegen den Großbetrieb. Es stapeln sich die Papiere und Fotos. Belege, die Ñanco zusammentragen hat, um den Geflügelproduzenten zu überführen. Ñanco geht es um mehr als um Hennen und Puten und die für Außenstehende schwer zu klärende Frage, ob hier Umweltvorschriften eingehalten oder einfach übergangen werden. „Wir wollen nicht, dass unser Wohl weniger gilt als die Interessen eines Investors.“ Ñanco hat, wie die meisten im Dorf, nur acht Jahre die Schule besucht. Es fällt ihm schwer, mitzuhalten in der Welt des Juristenvokabulars und der Bürokratiefloskeln. „Wenn wir das Geld hätten für einen guten Anwalt, dann wäre der Betrieb in ein paar Wochen dicht.“ So aber bleibt ihnen nur die Strategie, die Ñanco „an die Pforten klopfen“ nennt. Ganze Stapel von Eingaben hat er verfasst und an die Regierungsbehörden geschickt. Mit dem Fahrrad ist er bis nach Valparaíso gefahren, wo der Kongress tagt, hat sich die Füße wundgestrampelt auf der 800 Kilometer langen Wegstrecke. „Wir haben uns auch schon oft an die Medien gewandt. Die sagen: Liefert uns was Spektakuläres, Besetzungen, Aktionen. Aber wir wollen nicht in den Knast. Wir wollen einfach nur unser Recht.“

So ist es vor allem eine Untergruppe der Mapuche, die das Bild in der Presse prägt. Seit Ende der Neunzigerjahre haben sich Teile der Mapuche-Jugend radikalisiert. Sie wollen ihr Land zurück. Und sie glauben nicht daran, dass sie das allein mit Eingaben und Appellen erreichen können. Stattdessen besetzen sie Plantagen, verbrennen Lastwagen oder die Häuser von Großgrundbesitzern. Heute leben mehr als 300 junge Mapuche im Untergrund. Mehrere sitzen im Gefängnis, verurteilt nach dem „Antiterrorismusgesetz“ aus der Pinochet-Ära, das politisch motivierte Straftaten mit extrem langer Haft ahndet.

Und gerade diese Rechtspraxis ist es, die den Häftlingen jetzt breite Unterstützung einbringt. „Wegen teilweise harmloser Vergehen müssen Mapuche jahrelang hinter Gitter“, sagt etwa Enrique Pérez, einer der bekanntesten Menschenrechtler des Landes. „Der Staat nennt sich demokratisch und übernimmt Gesetze, mit denen ein Diktator seine politischen Gegner kaltstellen wollte. Das ist ein Skandal.“ UN-Experten haben dieses Vorgehen schon vor Jahren kritisiert. Und auch in Chile selbst wächst die Kritik.

Als unlängst vier Mapuche-Häftlinge zwei Monate lang in den Hungerstreik traten, empört über ein hartes Urteil nach dem Antiterrorismusgesetz, entzündete sich ein Massenprotest. Schulkinder harrten vor den Gefängnistoren aus und hielten Plakate in die Höhe. Studenten sprühten Solidaritäts-Graffiti an die Mauern und trafen sich zum Protestmarsch. Die Regierung schickte Vermittler in den Knast, selbst ein Bischof schaltete sich ein. „Es gab schon oft Hungerstreiks mit zehn oder zwanzig Teilnehmern. Das hat nie jemanden interessiert“, sagt Mariqueo. „Diesmal waren nur vier im Streik. Und das halbe Land nimmt Anteil. Endlich beschäftigen sich die Menschen mit unseren Problemen.“

Aufklärung ist wichtig, findet Mariqueo. Denn noch kennen viele Chilenen von ihrer größten indigenen Minderheit nur ein Zerrbild: Hinterwäldler mit Tracht und Trommel, wie sie in Fotobänden zu sehen sind – oder Eiferer mit einem Brandsatz in der Faust. Selbst Chilenen, die sich als „politisch links“ einordnen, sagen: „Ich hätte schon ein Problem damit, wenn meine Schwester einen Mapuche heiratet.“ Vielen gelten die Mapuche als Ewiggestrige, die sich an ein überholtes Lebensmodell klammern. Dabei erkennen auch Mapuche selbst durchaus hellsichtig ihre Lage. „Es ist ja schön, wenn die Regierung uns Land kauft und wir dann zehn Hektar haben statt bloß drei“, sagt etwa Juan Carlos Ayenao Cotrena, Wortführer einer Dorfgemeinde nahe Temuco. „Aber der Großbauer nebenan hat tausend Hektar. Wir werden nie mit den Weltmarktpreisen mithalten können. Unsere traditionelle Lebensweise hat keine Zukunft mehr.“ Er selbst jobbt in jeder freien Minute, um seinen Töchtern ein Studium zu finanzieren. Denn gerade die Jugend erprobt Wege abseits der Kleinbauernexistenz.

Zum Beispiel Juan Carlos Reinao Marilao: „Ich will der Gesellschaft beweisen, dass ein Mapuche ein fähiger Arzt sein kann“, sagt er. Reinao ist der erste seines Dorfes, der Medizin studiert hat. Ein 28-jähriger im Sportshirt, der gern lacht und von der letzten Party erzählt und seine Handyklingeltöne durchprobiert. Und der dann doch sehr rasch sehr ernst wird. „Die anderen Ärzte beobachten mich genau. Wenn ich einen Fehler mache, heißt es gleich: Ein Mapuche kann das nicht.“ Reinao kämpft an zwei Fronten: Den Kollegen will er beweisen, dass er ein guter Arzt ist. Und den eigenen Leuten, dass er ein guter Mensch geblieben ist. Dass er nicht vergessen hat, woher er kommt, nur weil er jetzt ein Unidiplom an der Wand hängen hat. Deshalb fährt er mit dem rostigen Fahrrad zur Klinik und nie im Taxi. Er grüßt den Parkwächter und die Putzfrauen, „das war hier eine kleine Sensation“. Er hat sich gefreut, als neulich ein paar Teenager im Krankenhaus vorbeischauten und „den jungen Arzt, der so gut drauf ist und Arme auch kostenlos behandelt“, kennenlernen wollten.

Und er war stolz, als Gemeindechefs ihn baten, die vier hungerstreikenden Häftlinge zu betreuen. „Eine Riesenehre“, sagt Reinao. Auch wenn er so wochenlang ohne Lohn schuftete, im Siebentagedienst für die immer schwächeren Protestler. Und obgleich er so Fragen lösen musste, die zu groß sein können für einen, der gerade noch im Unihörsaal saß: Was hat Vorrang – der Wille eines Menschen, zu hungern, oder die Pflicht eines Arztes, ihn vor lebensbedrohlichem Gewichtsverlust zu bewahren? „Das waren die härtesten Tage meines Lebens“, sagt Reinao.

Aber immerhin: Ein wenig geholfen hat der Kampf der Vicentes, Veronicas und Enriques dann doch. Die Staatsoberen beteuern nun ihre Reformbereitschaft. Die Regierung will das Antiterrorismusgesetz überarbeiten. Zudem tüftelt sie an einer Bildungsreform. Dorfschulen sollen besser werden, arme Schüler finanzielle Hilfe erhalten.

Mapuche-Vorkämpfer Don Vicente aber möchte nicht nur abwarten, ob den Guten-Willens-Bekundungen der Politik auch wirklich Taten folgen: „Ich will eine Art Volkshochschule für Mapuche-Kultur gründen.“ Heilige Männer sollen dort die alten Rituale lehren, Wissenschaftler ihre Ursprünge erklären. Greise Dorfdamen könnten die Jugend in Mapudungun unterweisen. „Mein Traum wäre die große Mapuche-Bewegung, die ein für alle Mal mit allen Benachteiligungen aufräumt. Aber zur Not freue ich mich auch über einen Sprachkurs.“

COSIMA SCHMITT, 31, ist Inlandsredakteurin der taz. Sie besuchte Chile für zwei Monate im Rahmen eines Journalisten-Austauschprogramms