Im Einsatz dort, wo es brennt

EINWANDERUNG Lina Ganama kam vor 23 Jahren aus Damaskus nach Berlin. Sie berät und unterstützt arabische Frauen und Familien und dolmetscht an sogennanten Problemschulen

■ Die Diskussion über Integration wird bestimmt von Geschichten über gescheiterte Migranten und deren Abkapselung in Parallelwelten. Weil Klischees aber selten stimmen, beleuchtet die taz gelungene Migrationsgeschichten. Bisher erschienen: „Adios Spontanität“ (7. 1. 10) über die Costa-Ricanerin Lorelly Bustos Córdoba, die in Hamburg einen Kindergarten leitet, „Unauffällig an die Spitze“ (22. 1. 10) über Vietnamesen in Leipzig, „Allein in der Nähe der Macht“ (15. 2.) über Ali Aslan, der im Innenministerium arbeitet, und „Im gelobten Winterwunderland“ (26. 2.) über den argentinischen Maler Juan Arata in Berlin.

Nächste Woche: Die 25-jährige Agnes Malczak aus Polen sitzt für die Grünen im Bundestag.

VON EDITH KRESTA

„Ich vermisse Damaskus. Meine Familie, die Straßen. Ich bin seit 22 Jahren hier und fühle mich manchmal, als sei ich gestern gekommen.“ Dabei liebt sie Berlin: „Berlin ist eine fantastische Stadt. Wenn das Wetter schön ist, kann ich mir keine schönere vorstellen.“ Lina Ganama, geboren 1957 in Syrien, kam 1987 nach Berlin. Eine nachziehende Ehegattin. Ihr syrischer Mann hatte in Berlin studiert und kam nach kurzem Zwischenspiel in Damaskus hierher zurück. Sie hatten sich an Linas Arbeitsstelle in Damaskus kennengelernt.

Lina hatte dort 1979 ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen, hatte ein Jahr in Paris gelebt und war Neuem gegenüber aufgeschlossen. „Bei mir kommt das sicher von dem familiären Rückhalt, den ich habe. Ich habe eine ganz tolle Familie, die hat mich immer unterstützt. Meine Eltern haben sehr auf meine Selbstständigkeit geachtet. Dass ich Selbstvertrauen habe, dass ich nehmen und geben kann. Meine Meinung äußern kann.“ Nach dem Mauerfall besuchte sie als Erstes das Pergamonmuseum aus „Heimatgefühl“. „Dort habe ich den Namen meiner Tochter ausgesucht. Sie wird Babel genannt. Meine zweite Tochter heißt Ebla. So habe ich zwei uralte Kulturstädte bei mir zu Hause.“

Sie hat bernsteinfarbene Augen, bernsteinfarbenes Haar. Sie trinkt schwarzen Tee, spricht schnell, lebendig, energisch – auf Deutsch wie Arabisch. „Mit dem Pass kommt man über die Grenze. Die Sprache ist der zweite Pass, mit dem kommt man in die Gesellschaft“, sagt Lina Ganama. Also lernte sie, 1987 in Berlin angekommen, zunächst Deutsch und suchte sich eine Arbeit. „Ich kann nicht zu Hause bleiben. Ich bin ein Typ, der immer aktiv ist. Ich muss was tun. Ohne Arbeit verliert man an Wert.“

Durch Zufall stieß sie auf das Nachbarschaftsheim Schöneberg. Zunächst als Honorarkraft, dann als Festangestellte mit einer halben Stelle. „Ich bin dort festgeklebt. Ich genieße die Arbeit bei Al Nadi.“ Seit 22 Jahren unterstützt sie zusammen mit einer deutschen Kollegin als Sozialarbeiterin im Nachbarschaftsheim Schöneberg arabische Frauen beim Aufenthaltsrecht, bei der Einschulung der Kinder, berät bei Eheproblemen, häuslicher Gewalt und hilft als Dolmetscherin und Beraterin an Berliner Schulen, Jugendämtern, Frauenhäusern. Überall dort, wo es brennt.

Al Nadi heißt auf Deutsch „Der Club“. Al Nadi soll für die Frauen gleichzeitig ein Ort sein, an dem sie sich zu Hause fühlen, ein kleiner Ersatz für die traditionelle Frauengemeinschaft in ihren Heimatländern. Ziel der Arbeit ist die Stärkung des Selbstbewusstseins und des Selbstvertrauens der Frauen. Sie sollen lernen, ihre Dinge selbst in die Hand zu nehmen, in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Im Unterschied zu den türkischen Berlinerinnen, die zum größten Teil einmal als „Gastarbeiter“ aufgrund von Anwerbeverträgen nach Deutschland gekommen sind, stammen nur wenige Araber aus Anwerbestaaten, allenfalls Marokkaner und Tunesier. Die meisten Menschen aus dem arabischen Raum kamen als Flüchtlinge oder Studenten, nur vereinzelt als Arbeitnehmer. Grob geschätzt, leben heute annähernd 35.000 Araber in Berlin. Die große Gruppe der mittellosen Flüchtlinge sind diejenigen, denen Sarrazin & Co Integrationsunwilligkeit vorwerfen.

Vor allem nachgezogene Frauen aus dem Libanon, dem Irak und Syrien, aber auch aus Algerien, Tunesien, Marokko, Ägypten und Sudan kommen zu Al Nadi. Sie kommen aus allen Altersgruppen und allen Bildungsschichten. Doch viele haben wenig, manche gar keine schulische Bildung. „Es kommen immer mehr Analphabeten“, sagt Ganama. Das Leben für nachgezogene Frauen hier sei schwer: Sehnsucht, Angst, Depression. Warum haben sie es nicht gelernt, stabiler zu sein?, fragt sie sich. „Es gibt auch eine Gruppe von Frauen – und das finde ich schade –, die mit der deutschen Gesellschaft nichts zu tun haben wollen. Das sind Frauen, die nur wiedergeben, was der Mann ihnen sagt. Sie glauben immer, was die Männer sagen. Das ist das Problem“, weiß Lina.

Als sie vor zehn Jahren die Scheidung beantragte, hörte sie von Frauen hier und in Syrien, wie mutig sie sei

Als sie vor zehn Jahren selbst die Scheidung beantragte, hörte sie von Frauen hier und in Syrien, wie mutig sie sei. Denn der Mann ist beleidigt, wenn die Frau die Scheidung einreicht. „Ich bin in den Augen vieler arabischer Männer diejenige, die den Frauen beibringt, die Scheidung zu beantragen. Und deshalb bin ich manchmal unbeliebt. Sie sagen, ich hetze ihre Frauen auf. Aber das ist mir egal“, sagt sie selbstbewusst. Lina Ganama legt sich an.

Den Frauen, die zu ihr kommen, bläut Lina zwei Dinge ein: Unabdingbar für das Leben in Deutschland seien ein Aktenordner und ein Locher. Oft kämen die Frauen mit Stapel unbearbeiteter Papiere. Sie rufen aus Stuttgart oder Hannover an, weil Beratungsstellen in arabischer Sprache meist nur in den Moscheen zu finden sind. Doch dort sind manche Themen tabu.

Braucht der Islam eine sexuelle Revolution? Lina lacht: „Ich bin keine Islamexpertin.“ Die Leute, die nach Deutschland kommen, hätten oft Angst und versteckten sich hinter dem Islam. Vor allem die Männer .„Aber ich sehe so viele Unterschiede in den arabischen Ländern beispielsweise zwischen Libanon und Saudi-Arabien, dass ich das nicht so allgemein sehen kann.“

Aus Verunsicherung in der Fremde, aus Angst sich zu verlieren würden die Leute oft konservativ. Das drücke sich umso mehr im Geschlechterverhältnis aus. „Schäm dich“, begleitet die Mädchen von Anfang an. Das wird von den Müttern wieder weitergegeben, obwohl sie selbst darunter gelitten haben.“

Seit Beginn ihrer Arbeit bei Al Nadi bis heute habe sich dennoch viel getan, betont Lina. Integration wurde, vor allem nach dem 11. September, ein gesellschaftliches Thema. „Eine große Gruppe von Zuwanderern rückte dadurch ins Blickfeld“, meint Lina. Es entstanden Integrationskurse, Integrationskonzepte. „Es gibt in den Schulen Deutsch als Fremdsprache, früher war es egal, ob die Migrantenkinder gelernt haben oder nicht gelernt haben. Jetzt ist viel passiert.“ Sie bedauert nur die Kurzfristigkeit vieler Projekte. „Da wird eine Vätergruppe eingerichtet und ein Jahr lang unterstützt. Danach verläuft das Projekt wie viele andere im Sand. Berlin lebt mit diesem Projektboom, der nicht nachhaltig ist“, bedauert Lina.

Den Frauen bläut Lina ein: Unabdingbar für das Leben hier seien ein Aktenordner und ein Locher

Zurück in die Heimat

Aber insgesamt habe sich eine gesellschaftliche Debatte über Gewalt und Ausgrenzung, über Integration und Anpassung auch in den arabischen Vereinen entwickelt. Arabische Vereine arbeiten sogar direkt mit der Polizei gegen Gewalt zusammen. „Wir haben zum Beispiel Elterntraining an Schulen gemacht. Durch das Elterntraining haben wir gemerkt: Die Eltern brauchen Hilfe. Sie trauen sich nicht zu sprechen.“ Die arabischen Familien hier müssten sich zeigen und Stellung beziehen, fordert Lina Ganama. Lina ist ein politischer Mensch. Doch über den Nahen Osten zu reden fällt ihr inzwischen schwer. „Zu viel Missverständnisse und Unrecht.“

Mit 60 Jahren will Lina wieder nach Damaskus und mit ihren Geschwistern und Freunden alt werden. „Und vielleicht kann ich meine Erfahrungen, die ich in Deutschland gemacht habe, dort einsetzen. Oder studieren. Kultur- oder Islamwissenschaft.“ Das Alter schreckt sie nicht. Sie ist positiv, optimistisch. „Ich habe noch viel zu tun. Man muss auch das Leben genießen.“