Landtagswahl in Bremen: Wählen lernen

Erstmals dürfen bei der Bremer Landtagswahl alle ab 16 wählen. Das haben sich die Jugendlichen selbst erkämpft. Und feiern lokale Politiker wie Superstars.

Bremer Realschüler lernen Demokratie. Bild: dpa

BREMEN taz | Hans-Wolfram Stein hat vorne in der Mitte Platz genommen, funkelnde Augen, blitzende Glatze und ein breites Lächeln, das abstrahlt in die Aula. In die strömen noch immer Mädchen und Jungs, immer mehr: Die Flügeltür zur Mensa kann nicht zuschwingen. Ein leicht fischiger Kantinengeruch überlagert das klassische Bohnerwachs-Staub-Aroma, mehr Stühle tun not.

Es ist 11.30 Uhr, und es beginnt in der Gesamtschule Ost (GSO), in Bremens größter Schule, die vielleicht bestbesuchte Podiumsdiskussion zur Bürgerschaftswahl am Sonntag. Vor lauter Jugendlichen von 16, 17 Jahren. Alles Wähler.

Denn bei der Bremer Landtagswahl haben erstmals alle ab 16 Jahren Stimmrecht. Diskutiert wird das auch in Rheinland-Pfalz und Berlin, in Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Aber Gesetz ist es eben nur hier, seit Herbst 2009. Laut Landeswahlleiter vergrößert sich dadurch die Zahl der Stimmberechtigten um rund 10.000.

Infolge der Haushaltsnotlage - 18 Milliarden Schulden bei 660.999 Landeskindern - erlebt Bremen einen ausgesprochen themenarmen Wahlkampf: SPD, Grüne, CDU und FDP haben sich auf den in Artikel 143 d Grundgesetz eröffneten "Konsolidierungspfad" eingelassen. Heißt: Wenn Bremen bis 2020 sein strukturelles Defizit von derzeit 1,2 Milliarden Euro auf 0 Euro abbaut, bekommt das Land jährlich 300 Millionen Euro Hilfe. Das bedeutet einen strikten Sparkurs, zu dessen Gestaltung konkrete Aussagen fehlen.

Für einen Irrweg halten Die Linke und die Bremer und Bremerhavener Wählergemeinschaft B+B den Konsolidierungspfad: Sie sehen darin eine Kürzung von mehr als 20 Prozent der Realausgaben des Landes, trotz akuten Investitionsbedarfs. Die Linke verspricht, für Arbeitsmarktprogramme und gegen Armut Geld auszugeben, B+B vor allem für Straßenbau. Belastbare Bezugsquellen fehlen. (bes)

Der Antrag stammte von der rot-grünen Koalition, die Linke war auch dafür, ebenso wie die fünf FDPler; war also eine klare Sache am Ende. Aber am Ende einer langen Geschichte. Und in der spielt dieser Hans-Wolfram Stein eine wichtige Rolle, der da vorne gut gelaunt in der Mitte sitzt zwischen den fünf, na ja: ProfipolitikerInnen, wenn man davon in Bremen mit seinem Halbtagsparlament sprechen mag.

Neben ihm die Schülerin heißt Sisse Tunc. Sie moderiert. Manchmal springt Stein ihr bei. Nicht dass sie das nötig hätte. "Mittlerweile", sagt sie, "habe ich da schon Erfahrung." Bloß ist dieser Herr Stein halt einer, den mitunter die Lust überkommt, sich einzumischen. Und dann tut ers halt auch.

Schwache Gegenargumente

Stein ist seit Ende der 1990er Jahre Regionalkoordinator des Bundeswettbewerbs "Demokratisch Handeln". Das ist er auch jetzt noch, mit 61, als Ruheständler; und der Lust am Einmischen nachzugeben, das ist politische Bildung, wie Stein sie praktiziert. Und sie hat Wirkung. Mit einem Kurs hat er, vor zwei Jahren, die Cafés der Flaniermeile an der Weser auf Barrierefreiheit getestet: Alle fielen durch. Die Untersuchung hat dann die neue Landesbauordnung beeinflusst.

Oder 2006, da hat er mit SchülerInnen die Auswirkungen von Reichtum und Armut auf die Stadtteile untersucht: Die Zahlen fanden Eingang in Bremens Bundesratsinitiative für höhere Hartz-IV-Regelsätze. Und so wars eben auch Steins Politikkurs, der damals, im Juli 99, vom sozial benachteiligten östlichen Stadtrand auf den Markt zog, vor die Bürgerschaft, zur Landtagssitzung.

Und dort vertraten die SchülerInnen dann den ins Parlament eilenden Abgeordneten den Weg, höflich, aber bestimmt. Drückten ihnen Zettel in die Hand. Quatschten sie an, ernteten abweisende Gesten, freudigen Zuspruch und Beteuerungen: "Wir wollten das ja", druckste Jens Böhrnsen, seinerzeit gerade zum Chef der SPD-Fraktion gekürt - bloß "unser Partner", sagte er, "der hatte damit Schwierigkeiten." Da war der Vertrag über vier weitere Jahre große Koalition gerade einen Monat alt.

Es war kein unvorbereiteter Auftritt gewesen. Die SchülerInnen waren zuvor schon eingestiegen in die Analyse der niedersächsischen Kommunalwahlen, wo es das Stimmrecht ab 16 bereits gab. "Wir hatten uns die Gegenargumente angeschaut", sagt Sabrina Schaar, die damals dabei war. "Die hatten uns nicht überzeugt." Das Echo war riesig, Zeitungen, Fernsehen, Radio. Die Fraktionen luden die SchülerInnen ein, schließlich befragte sie der Verfassungsausschuss, Seit an Seit mit dem berühmten Jugendsoziologen Klaus Hurrelmann, der schon damals sagte: Die können das.

Und dann schwelte die Debatte fort, ewig fast. "Ich hätte nie gedacht, dass die das irgendwann beschließen", sagt Schaar. Inzwischen ist sie 29 und studiert. "Ich finde das auch immer noch richtig", sagt sie, und dass die Mühlen langsam mahlen. "Aber sie mahlen."

Ungeahnte Leidenschaften

Die Gegenargumente waren schon in den 90ern alt. Sie halten sich hartnäckig - selbst die blödesten: Gern wird gesagt, dass es ja auch den Führerschein erst ab 18 Jahren gebe - als könnte man besoffen gegen den Baum wählen. Oder: dass Heranwachsende doch schließlich auch nur nach Jugendgerichtsgesetz strafrechtlich belangt werden - als dürfte eine geheime Stimmabgabe Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen sein. Oder: dass den Jugendlichen die politische Bildung fehlt. Da kann Sisse Tunc nur lachen: "Zu Hause", erzählt sie, "habe ich das neue Wahlrecht meinen Eltern erklärt." Dass man fünf Stimmen hat, dass man sie beliebig kombinieren kann oder alle einem Kandidaten geben. "Die wussten davon nichts." Sie hat das in der Schule gelernt.

Frenetisch ist der Beifall in der Aula der Gesamtschule Ost, als die fünf Halbprofipolitiker vorgestellt werden. Die dürfen sich wie frisch gevotete Superstars fühlen. Und solche Momente gabs nicht oft im faden Bremer Wahlkampf. Es fehlt halt der Gestaltungsspielraum: Dass Bremen Haushaltsnotlageland ist, steht sogar im Grundgesetz. CDU und FDP versprechen härteres oder qualitätsvolleres Sparen, SPD und Grüne schmerzfreies. Hier aber branden ungeahnte Leidenschaften auf, es gibt Pfiffe und Gegröle, einer Lehrerin wird das zu laut.

Sie blickt streng nach hinten: Es gibt ja für die SchülerInnen hier einen besonderen Grund, sich für diese Wahl zu begeistern. Sie haben eine Wette laufen, mit Werder-Verteidiger Sebastian Prödl: Nämlich dass die Gruppe der 16- bis 18-Jährigen eine bessere Beteiligung schafft als die Alterskohorte der Werder-Profis. Die sind zwischen 21 und 35 Jahre alt.

Klar hat das Stein mit angestoßen und promotet. Jetzt nehmen schon 25 Bremer Schulen daran teil. Prödl wird verlieren und muss dafür eine Stunde unterrichten. Vermutlich jubeln aber ein paar dort hinten wirklich mehr um des Lärms willen.

Die Lehrerin sichtet noch einmal die Reihen. Sie legt den Zeigefinger auf die Lippen, zieht die Brauen zusammen. Ein bisschen wirkts. Bei der Jungliberalen ist der Beifall schon deutlich leiser. "Die FDP ist doch eh hinüber!", zischt es aus der Mitte. Gelächter. Das ist bei prognostizierten 3 bis 4 Prozent keine so verkehrte Einschätzung. Bei den Fragen zu Atomkraftausstieg, zur Lehrstellensituation und zum Wahlrecht herrscht Ruhe. Und für die Statements gibts Applaus und Pfiffe.

Für Selbstbestimmung

Gut zehn Kilometer weiter westlich, in Bremens szenigem Steintorviertel, wird die Sache mit dem Stimmrecht deutlich nüchterner bewertet. Hier residiert die GesamtschülerInnenvertretung (GSV) in einer ruhigen Seitenstraße. In der alten Stadtvilla treffen sich alle Bremer SchülervertreterInnen ab der fünften Klasse regelmäßig. Die Tür ist eingerahmt von Aufklebern "für Schulstreik" oder "gegen Rassismus". Jordi Ziour öffnet in schlabbriger Hose und Trainingsjacke. Er ist 17, gehört zum GSV-Vorstand. Im Flur stehen Farbeimer und Sprühdosen, daneben selbst gemalte Transparente und Bettlaken auf Vorrat. Es riecht leicht nach Farbe. Auf dem Boden hinter einer Kiste steht ein gerahmtes Poster: "Mehr Demokratie im Schulgesetz."

Das ZDF hatte kürzlich eine Einladung an die GSV geschickt, zu einer Wahlsendung. "Da hatten wir unsere Positionen noch nicht abgestimmt", sagt Ziour. Zur Bürgerschaftswahl gabs nur von der Linken einen Brief. Und vergangenen Monat, beim jährlichen Infotag der GSV, hatte die Behörde zur Bedingung gemacht, dass es einen Wahl-Workshop gibt. Den hat der Herr Stein durchgeführt. Aber der zu Antirassismus kam deutlich besser an.

Eine Diskussion zum Thema hatte die GSV wohl auch selber machen wollen, ursprünglich. Aber dann war zu viel zu tun: Die Mobilisierung gegen den NPD-Aufmarsch, wochenlang nach acht Stunden Unterricht noch drei Stunden Orga-Treffen. Da fehlt dann die Zeit fürs Landtagsthema. Und ehrlich gesagt: Man ist auch etwas skeptisch gegenüber der repräsentativen Demokratie. "Wir sind für Selbstbestimmung, basisdemokratisch."

Man macht schließlich so seine Erfahrungen: In der Bildungsdeputation, einem gemischten Gremium von Parlament und Verwaltung, hat die GSV Rederecht. Schon länger nimmt sie es nicht mehr wahr. "Wir werden da nur belächelt." Jordi Ziour legt die Füße auf einen Tisch. "Egal wen ich wähle, eine emanzipierte Gesellschaft werde ich nicht erreichen", sagt er. Wählen geht er trotzdem am Sonntag. "Das ist besser, als es nicht zu tun", sagt er. "Auch wegen der Nazis."

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