Neue Orte für Künstler: Inspiration in Hochhausschluchten

Im Schatten der Großsiedlung Marzahn richten Künstler ihre Ateliers ein. Während im Zentrum die Mieten für Studios steigen, profitieren die Bildhauer, Fotografen und Maler von den niedrigen Kosten.

S-Bahnhof Landsberger Allee, an der Grenze von Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Auf der Haltestelle der Tramlinie M6 Richtung Mitte drängen sich die Wartenden. Carola Rümper beobachtet die Szene vom fast leeren Bahnsteig gegenüber. Ruckelnd nähert sich die M6 in Richtung Marzahn. Rümper setzt sich ans Fenster. Jeden Morgen fährt sie hinaus nach Marzahn. "Anfangs dachte ich, das ist total weit. Aber mittlerweile fühlt es sich nicht mehr so an, als ob ich aus der Stadt rausfahre", sagt sie und blickt auf die vorbeiziehenden Häuser.

Rümper ist bildende Künstlerin. Ihr Atelier liegt im Erdgeschoss eines Plattenbaus. Am S-Bahnhof Marzahn steigt sie aus der Tram, stapft in ihren braunen Wanderstiefeln vorbei am Einkaufszentrum Eastgate und biegt in die Marzahner Promenade. Hochhäuser rahmen die breite Straße. Rümper blickt an der Fassade hoch. Die waagrechten und senkrechten Linien der Gebäude finde sie toll, sagt sie, das sei ihre Inspiration. Und die Fallwinde, die in den Häuserschluchten entständen. In den Erdgeschossen auf der rechten Seite reihen sich Läden aneinander: asiatischer Imbiss, Discount-Haushaltswarenladen, Sonnenstudio. Vereinzelt stehen junge Vietnamesen auf der Straße und verkaufen Zigaretten auf Pappkartons.

Am Fuß des Wohnblocks Marzahner Promenade 43 schließt Rümper ein Ladengeschäft auf. Gemeinsam mit der Fotografin Anne Michaux hat sie sich hier ein Atelier eingerichtet. Die ehemalige Ladenfläche ist 75 Quadratmeter groß. An den weißen Wänden hängen Fotografien neben lackierten Heizungsrohren; auf den breiten Fensterbrettern stehen Skulpturen, kleine Kakteen und ein alter Koffer mit T-Shirts zum Verkauf. Der Raum liegt an der Ecke des Hauses, die Wände zur Straße hin sind deckenhoch verglast. "Wo in Berlin hätte ich so viel Licht?", fragt Rümper. Sie erzählt von einer Freundin, die ihr Atelier im Erdgeschoss eines Hinterhofs in Prenzlauer Berg hat: "Das hier ist eine ganz andere Atmosphäre!"

Drei weitere Räume stehen den Künstlerinnen zur Verfügung, insgesamt fast 170 Quadratmeter. Vorher sei ein Copyshop in dem Laden gewesen, erzählt Rümper. Und davor mal eine Sparkasse. Für die Räume zahlen die Künstlerinnen keine Miete, nur die Betriebskosten.

Die Kunst an die

Menschen heranführen

Möglich macht dies das Atelierprogramm, ein Kooperationsprojekt der Marzahner Galerie M und der Wohnungsgesellschaft Degewo. "Am Anfang stand eine profane Idee", erzählt Kuratorin Karin Scheel. Die 46-Jährige sitzt in ihrem Büro in der Galerie M, nippt an ihrem schwarzen Kaffee und fährt sich durch das streichholzlange blonde Haar. "Hier in Marzahn war Leerstand, und wir wussten, dass Künstler immer nach bezahlbarem Raum zum Arbeiten suchen." Erika Kröber, Sprecherin der Degewo, ergänzt: "Wir möchten jungen Künstlern damit eine Chance für ihre künstlerische Weiterentwicklung geben."

In acht Ateliers haben so elf Künstler einen Ort zum Arbeiten gefunden. Karin Scheel koordiniert das Programm. Ihre Galerie M liegt am Beginn der Marzahner Promenade. Vor zwei riesigen dunkelgrauen Wohnblöcken wirkt das Haus wie eine Basisstation am Fuß eines Gebirges. Seit sie die Galerie vor zwei Jahren übernommen hat, ist es ihr Anliegen, vorrangig Künstler hierher zu bringen, die konzeptionell arbeiten. "Es geht nicht nur darum, die Kunst hierher zu bringen, sondern auch die Kunst an die Menschen heranzuführen."

Ab dem heutigen Freitag zeigt die Galerie M in einer Ausstellung Werke aller Künstler, die am Atelierprogramm beteiligt sind. Das Programm läuft seit fast zehn Monaten. Ein paar Künstler hat Scheel inzwischen kommen und gehen sehen. Sie habe aber auch gemerkt, wie der Arbeitsraum Marzahn Einfluss auf deren Arbeit habe: "Künstler wollen Reibungsfläche. Marzahn ist eine relativ unbekannte Welt, hier muss man sich die Reibungsfläche zunächst suchen. Das ist eine Herausforderung. Aber es macht auch mehr Spaß. Das hier ist irgendwo Pionierarbeit."

Konzentriert kniet Carola Rümper auf dem Boden ihres Arbeitszimmers in ihrem Atelier. Sie hat jetzt eine verfleckte Arbeitshose und ein blaues Holzfällerhemd an und trägt Modelliermasse auf eine Skulptur auf. Das einzige Geräusch ist das Rauschen der entfernten Hauptverkehrsstraße Landsberger Allee. Neben der großen Skulptur wirkt Rümper verschwindend klein. "Kunst ist Knochenarbeit", sagt sie und blickt auf; beim Lächeln bilden sich Grübchen auf ihren geröteten Backen. Über ihr Alter möchte sie nicht sprechen, nur so viel: Ihr Kunststudium in Osnabrück habe sie 1992 abgeschlossen. Danach ist sie rumgekommen, von Enschede bis nach Kairo. Vor drei Jahren verschlug es sie nach Berlin. Der größte Teil ihrer Arbeiten beschäftigt sich mit den sogenannten Rümperiens: kleine schwarze Gestalten, ein bisschen wie dreidimensionale Farbkleckse, die Rümper im Alltag sucht und später als Skulpturen mit Masse nachformt. "Dabei handelt es sich um eine Population, die ich aus meiner Kindheit kenne. Später habe ich mich verpflichtet gefühlt, diese Population den Menschen vorzustellen", sagt sie. In Marzahn habe sie bis jetzt 52 gefunden: "Sie sind sehr scheu, deshalb muss man Geduld haben und die Augen aufhalten." Ob sie das ironisch meint, bleibt unklar. In ihrem Atelier hängen Fotos von einer Aktion, mit der sie auf Rümperiens in Kairo aufmerksam machen wollte; daneben hängt ein Poster mit einer Artenbestimmung der Gestalten, die sie verfasst hat, einschließlich lateinischem Namen.

Später sitzt Rümper an einem Tisch in ihrem Atelier und rührt Cappuccino-Pulver in heißes Wasser. Ob sie sich sicher fühle im angeblichen Problembezirk? Sie lacht: "Ich finde den Bezirk eigentlich sehr beschaulich." Vor dem Fenster schließt ein Paar, beide Ende sechzig und mit Dackel, die Tür zu einem Wohnblock auf. Die Künstlerin betrachtet sie für einen Moment, lächelt: "Und am Sonntag zieht man sich dann schick an und putzt sich raus. Das finde ich toll." Nein, gefährlich wirke es hier nicht. Die Gegend sei eher ein bisschen spießig.

Teile der Medien haben den Stadtteil im Norden zum Problembezirk erklärt. Die Komikerin Ilka Bessin, besser bekannt als Cindy aus Marzahn, hat dem Bezirk schließlich ein zweifelhaftes Gesicht gegeben: dick, vulgär und asozial. Die Menschen, die Rümper auf ihrem Weg zur Arbeit begegnen, sehen nicht aus wie die Kunstfigur Cindy. Vor allem ältere Paare sind unterwegs. "Viele von ihnen leben im Viertel, seitdem es gebaut wurde", sagt Rümper. Marzahn ist ein junger Stadtteil. 1973 entschied sich die DDR-Regierung unter Erich Honecker zum Bau der Großsiedlung in der Nähe des Dorfs Marzahn. Bis 1989 waren fast 60.000 Wohnungen fertig.

"Die meisten Bewohner sind jetzt pensioniert", ist Rümpers Erfahrung. Der Kontakt zu ihnen allerdings läuft nur langsam an. "Im Sommer habe ich draußen an meinen Skulpturen gearbeitet. Da kam der eine oder andere und hat nachgefragt. Und natürlich bleibt manchmal jemand stehen und schaut durchs Fenster, wenn er mich arbeiten sieht." Jetzt im Winter sei der Kontakt allerdings eher spärlich. "Da muss man einen langen Atem haben", sagt sie. "Aber ich mag die Berliner Schnauze hier draußen. Die hat oft etwas Keckes und Witziges, aber sie ist herzlicher als im Zentrum", findet die Künstlerin und zieht heftig an einer Zigarette.

Außer den Künstlern im Atelierprogramm kennt Carola Rümper niemanden, der in Marzahn arbeitet. Die meisten ihrer Kollegen hätten ihre Ateliers in Neukölln, Prenzlauer Berg oder Kreuzberg, sagt sie, "den üblichen verdächtigen Bezirken eben". Als sie einer Freundin von ihrem Plan erzählte, in Marzahn zu arbeiten, meinte diese nur besorgt: "Mein Gott, und wie fühlst du dich dort?"

Aber als sie ihr zukünftiges Atelier besichtigt habe, sagt Rümper, habe sie sofort gewusst, dass es das Richtige für sie sei. Im Zentrum Berlins hätte sie für den Preis nichts gefunden. Sie erzählt, wie sie in der Stadt Räume besichtigte, die weder einen Wasserhahn, noch eine Heizung hatten. Zum Teil lagen die Ateliers im vierten Stock, die Toilette im Erdgeschoss. "Durch diesen ganzen Berlinhype gibt es mittlerweile auch viel Abzocke", sagt Rümper und zieht die schwarzen Stulpen an ihren Handgelenken zurück.

Dorfidylle nebenan

In Marzahn fühlt sie sich nun pudelwohl. Rümper erzählt von der Kneipe nebenan, in der das Bier 1,40 Euro kostet, und dem Imbiss an der Tramstation, an dem man im Sommer draußen sitzen kann. Ein bisschen klingt sie wie eine Rucksacktouristin in einer fremden Stadt. Ihre blauen Augen leuchten, wenn sie vom letzten Sommer spricht. Mit Freunden sei sie ins benachbarte Alt-Marzahn gelaufen. "Das war wie auf dem Dorf, so idyllisch", schwärmt sie. Es erinnere sie an ihre Kindheit, das Dorf in Norddeutschland, in dem sie aufgewachsen sei.

Still wirkt die Marzahner Promenade und ein bisschen verlassen. "Wenn ich abends nach Hause gehe, bin ich manchmal ganz allein auf der Straße", erzählt Rümper, vor allem am hinteren Ende der Straße, wo ihr Atelier liegt. Zu DDR-Zeiten als Einkaufsstraße geplant, hat die Marzahner Promenade spätestens seit der Eröffnung des Einkaufszentrums Eastgate ihre Funktion als Geschäftsstraße verloren. Stadtbauprojekte versuchen seitdem, die Straße wieder zu beleben. An diesem Abend ist davon nichts zu merken.

"Ateliers!" - Künstlerinnen und Künstler des Marzahner Atelierprogramms, Vernissage am Freitag, 28. Januar 2011, 18 Uhr Ausstellung vom 29. Januar bis 11. Februar 2011, Galerie M, Marzahner Promenade 13, 12679 Berlin
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