Fliegerbomben: Die Trauer ist kaum noch sichtbar

Einen Monat nach dem missglückten Entschärfungsversuch mit drei Toten beginnt in Göttingen die Suche nach weiteren Blindgängern. 30 könnten noch unter der Erde schlummern. Aber auch die Göttinger denken jetzt eher an die Fußball-WM.

Am 29. Mai war auf dem Göttinger Schützenplatz noch Flohmarkt, zwei Tage später ging die Bombe zu früh hoch und tötete drei Menschen. Bild: dpa

Mit einem Sirren wühlt sich der Bohrer in den Untergrund. Lehmige Erde wird heraufgewirbelt und türmt sich rund um das Bohrloch auf wie ein riesiger Maulwurfshaufen. In weniger als einer halben Minute hat der Bohrkopf mit dem schneckenförmigen Gewinde eine Tiefe von sechs Metern erreicht. Später wird eine Röhre in das Bohrloch geschoben, durch die eine Sonde im Erdreich versenkt wird. Sie soll alles melden, was aus Metall ist.

Einen Monat nach der Detonation einer Zehn-Zentner-Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, bei der es drei Tote gegeben hatte, hat auf dem Göttinger Schützenplatz gestern die Suche nach weiteren Blindgängern begonnen. Auf dem Platz, den angrenzenden Straßenzügen und am nahen Leineufer hatten Experten beim Studium von Luftbildern 30 Verdachtsflächen ermittelt, unter denen weitere Bomben liegen könnten. Mit den Sondierungsbohrungen hat die Stadtverwaltung eine Spezialfirma aus Münster beauftragt.

Sie seien hier erst mal zu dritt, sagt Truppführer Volker Heimberg. In den nächsten Tagen soll aber weiteres Personal zur Verstärkung anrücken. Über den Verdachtsflächen werden kreisförmige Bohrungen niedergebracht. In drei Wochen sollen die Arbeiten abgeschlossen sein.

Die eingelassenen Sonden ertasten die unterirdische Umgebung und melden, wenn sie auf Metall stoßen, die Größe und den genauen Fundort. "Sie glauben gar nicht, was wir bei unserer Arbeit schon alles gefunden haben", sagt Heimberg, 54, der sein gefährliches Handwerk bei der Bundeswehr erlernt hat. "Badewannen, Waggonachsen oder Küchenöfen". Konkretisiert sich der Verdacht auf eine Bombe, fordert Heimberg den Kampfmittelräumdienst der Polizei an, nach der Devise: "Das Öffnen übernehmen wir, das Sprengen nicht."

Bei den Luftbildern, an denen sich die Bohrarbeiten orientieren, handelt es sich nach Angaben der Stadt Göttingen um Aufnahmen der US-Luftwaffe vom 8. und 11. April 1945. In den Tagen davor hatten amerikanische Flugzeuge den Göttinger Bahnhof und die Bahnstrecke bombardiert. Der Schützenplatz liegt in unmittelbarer Nähe der Gleisanlagen.

Seit Kriegsende gingen auf dem Platz und der Umgebung immer wieder Blindgänger hoch - so im August 1947, im April 1953, im Oktober 1968, im Dezember 1992 und wahrscheinlich im Dezember 1998 unter einem Linienbus. Bei der zuletzt genannten Detonation gab es auch Verletzte.

Bei Bauarbeiten für eine neue Sportarena auf dem Schützenplatz waren in diesem Mai zwei weitere Blindgänger entdeckt worden - beide waren mit so genannten Säurezündern versehen, die besonders schwierig zu entschärfen sind. Die erste Bombe konnte der Kampfmittelräumdienst noch ohne größere Probleme unschädlich machen. Die zweite detonierte am 1. Juni unmittelbar vor der geplanten Entschärfung. Drei Sprengmeister kamen bei der Explosion ums Leben, weitere Menschen wurden teils schwer verletzt.

Das Unglück hat die Stadt wochenlang beschäftigt. Am eingezäunten Schützenplatz legten Unbekannte Blumen und Kränze ab, abends brannten dort Teelichter und Kerzen. Zu einem Gedenkgottesdienst kamen mehr als 400 Trauergäste. Im Online-Kondolenzbuch der Lokalzeitung trugen sich mehr als 800 Menschen ein.

Ein 30 Quadratmeter großes Anti-Kriegs-Transparent, das drei junge Graffiti-Künstler an den um den Platz gezogenen Schutzzaun gehängt hatten, ließ die Stadt allerdings wieder entfernen. Sprecher Detlef Johannson erklärte dies mit einer zu starken Windbelastung. Der Zaun sei an dieser Stelle bereits umgeweht worden. Es sei zu befürchten, dass das Transparent diesen Effekt verstärke. Außerdem lenke das Bild am Straßenrand die Verkehrsteilnehmer ab. Die Künstler bekamen ihr Transparent zurück, ein neuer Platz ist noch nicht gefunden.

Die Stadt denkt aber über ein offizielles Mahnmal für die Verstorbenen nach. "Wir werden das vielleicht in den Bau der neuen Sporthalle integrieren", sagt Stadtsprecher Johannson. Inzwischen ist die Zahl der öffentlichen Beileidsbekundungen allerdings stark zurückgegangen. Spätestens seit Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft prägen Fan-Aufläufe und Autokorsos das Stadtbild. Die Trauer ist kaum mehr sichtbar.

So lange die Suche nach weiteren Bomben nicht abgeschlossen ist, dürfen Unbefugte den Schützenplatz nicht betreten. Doch in knapp vier Wochen wird in Göttingen das Schützenfest gefeiert - und für Festzelt und Budenzauber gibt es noch keinen Ausweichstandort. Selbst wenn die Blindgängersuche bis dahin abgeschlossen wäre, schließt Michael Klingberg vom Schützenverein ein Fest am dem Ort aus, "wo drei Menschen vorher ihr Leben verloren haben

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