Medizinische Hilfe für irakische Kinder: Basra - Osnabrück. Und zurück.

Alis Bein wurde in Basra von einem Panzerfahrzeug abgetrennt. In Osnabrück wird er operiert und versorgt. Ein Miniverein holt Kinder wie Ali auf eigene Faust nach Deutschland.

OSNABRÜCK taz Ali Mohammed sitzt in seinem Krankenhausbett. Die Rückenlehne ist hochgestellt und vor ihm auf dem Klappbrett parken Matchboxautos. Unterm Bett liegt ein Sportschuh, grün, gelbe Streifen, Klettverschluss. Der zweite Schuh fehlt. Ali braucht nur einen. Das rechte Hosenbein ist leer.

"Wiedersehen, Ali", sagt die Mutter seines Zimmergenossen. Sie schleppt eine Sporttasche, ihr Sohn trabt hinter ihr her. Er darf heute raus aus dem Franziskus-Hospital, es ist ein guter Tag, um heimzukommen in Osnabrück. Durchs offene Fenster kann man den wolkenlosen Frühlingshimmel sehen. Der Junge nickt Ali zu. "Also dann."

Alis Zuhause ist nicht Osnabrück. Er kommt aus dem Irak, aus der Hafenstadt Basra. Er ist elf Jahre alt und hat dunkle Augen, die neugierig schauen. Mit diesem Blick muss er vor zweieinhalb Jahren auf die Straße gelaufen sein. Es war laut. Die Menschen rannten durcheinander, ein Panzerfahrzeug raste heran.

Ali zeichnet mit der Hand eine Linie. Von seinem rechten Hosenbein schräg hoch über den Bauch - so ist das Armeeauto über ihn gefahren. Danach konnte er sein rechtes Bein nicht mehr bewegen, aber noch richtig spüren. Jetzt ist es amputiert, und wenn es noch wehtut, dann sind das Schmerzen, die aus der Erinnerung stammen. Phantomschmerzen. Unter Alis Polohemd kommt ein Schlauch heraus, der in einen Plastiksack führt. Seine Harnröhre wurde auch zerstört.

Im Irak sind die Krankenhäuser überfordert. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schätzt, dass seit dem Beginn des Krieges vor fünf Jahren 2.200 Ärzte und Schwestern getötet wurden. 1990 waren noch 34.000 Mediziner registriert, 20.000 sollen seitdem das Land verlassen haben. So ist das, wenn Krieg herrscht. Deshalb sind schon bei anderen Konflikten Helfer auf die Idee gekommen, wenigstens die Kinder zur Behandlung auszufliegen. Deutsche Initiativen wie das Friedensdorf Oberhausen machen das seit dem Vietnamkrieg. Sie helfen auch Krankenhäusern in Krisengebieten. Aber aus dem Irak haben sich die meisten europäischen Hilfsorganisationen zurückgezogen.

Michael Clasen fand, dass es so nicht geht. Ein Junge aus Basra muss dasselbe Recht auf medizinische Versorgung haben wie einer aus Osnabrück, dem das Skateboard weggerutscht ist. Clasen, 32 Jahre alt, ist Redakteur bei der Neuen Osnabrücker Zeitung. Er ist ein verbindlicher und wortkarger Typ, der in seinem Leben kaum aus der Stadt rausgekommen ist. Aber in Afghanistan und im Irak war er. Er ist auch gefahren, als die Bundesregierung Reisewarnungen ausgegeben hat. Jemand muss doch nachschauen, hat er sich gesagt. Jemand muss auch die Kinder zum Arzt bringen. "Es gibt doch sonst nichts." Es klingt verständnislos.

Er hat vor einem Jahr eine Miniorganisation gegründet. Sie heißt etwas hochtrabend Luftbrücke Irak, aber sie hat keine Geschäftsstelle, und die Internetseite wird selten aktualisiert. Sie sind ja nur zu viert. Neben Clasen macht der Exiliraker Mirza Dinnayi mit, ein Dolmetscher und angehender Arzt aus Hannover. Er hat im Herbst das erste Mal Kinder über die Türkei nach Deutschland gebracht. Dinnayi ist ein quirliger Mann. Man kann sich vorstellen, wie er in Istanbul in der Flughafenhalle steht mit sechs Kindern im Rollstuhl und wie er der Dame am Schalter sanft mit CNN, BBC und allen Sendern der Welt droht, wenn sie sie nicht mitfliegen lässt.

Auch Hadi Babascheich gehört zur Luftbrücke. Er fährt Taxi in Osnabrück und nimmt als Gastvater Kinder in seine Familie in Ibbenbüren auf. Der Vierte ist Heiner Ehrenbrink, der Chefarzt der Unfallchirurgie im Franziskus-Hospital. Er hat Alis Bein noch mal operiert, weil der Knochen aus dem Stumpf herausspiekste. Ehrenbrink sagt, dass er lieber noch mal kostenlos ein Kind versorgt, als auf einen Golfplatz zu fahren. Das hört sich ein bisschen lästerlich gegenüber den Golfliebhabern im Kollegenkreis an, was sich der Unfallchirurg eigentlich nicht leisten kann, weil er ja für die Kinder aus dem Krieg immer wieder Ärzte sucht, die auch mal ein bisschen weniger auf den Golfplatz fahren.

Ein Redakteur, ein Dolmetscher, ein Taxifahrer und ein Chefarzt - so ist es gekommen, dass Ali Mohammed aus Basra im März in einem Flugzeug neben Michael Clasen saß. Es gab Schokolade und Cola.

Wenn der Junge von der Reise erzählt, von den vielen Maschinen auf dem Münchner Flughafen, dann kommt Ehrenbrinks Assistenzarzt, der übersetzt, schwer hinterher. Ali lässt die Hände zusammenknallen, wenn er von den Kämpfen in Basra erzählt. Er ballt die Faust, wenn er von Younis Mahmoud schwärmt, dem irakischen Fußballkapitän, der im Sommer gegen Saudi-Arabien das Siegtor geschossen hat im Endspiel des Asien-Cups.

Ein Satz hört sich kitschig an, zumal für einen Elfjährigen, aber der Assistenzarzt nickt noch mal zur Bestätigung. "Ich tausche eine Blume von euch gegen eine Erdmine von uns." Der Satz ist merkwürdig, aber er fängt das Besondere daran ein, dass Ali hier ist. Eigentlich gehören die Blumen nach Osnabrück und die Erdminen nach Basra. Die unversehrten Kinder leben in Deutschland und die verletzten im Irak. Im Franziskus riecht es diskret nach Putzmittel, und irgendwo in einem irakischen Krankenhaus sind die Antibiotika wieder alle. Nun ist die Sortierung an einer kleinen Stelle durchbrochen, ausgerechnet in Osnabrück, wo Deutschland eine heile Welt ist und die Katastrophe im Irak höchstens mal ein Bericht in Michael Clasens Zeitung.

Ali hat Besuch. Sein Freund, der sieben Jahre alte Rayan Soran und Hadi Babascheich, der Gastvater, sind da. Ali sitzt im Rollstuhl in seinem Krankenzimmer, Rayan auf einem Stuhl. Seine Augäpfel sind weiß, der rechte Ärmel seines Pullis ist leer. Zu Hause in Kirkuk hat ihm ein Unbekannter eine Tüte in die Hand gedrückt. Es sei ein Ramadangeschenk für seinen Vater, den Polizisten. Kurz vor der Haustür ist die Tüte explodiert.

Ali ist Schiit, Rayan Sunnit, der eine wohnt im Südirak, der andere im Norden. "Khomeini ist ein bärtiger Esel", stichelt Rayan. "Du bist der Esel", blafft Ali.Er schwingt den Rollstuhl zu Rayan und nimmt ihn in den Schwitzkasten. Sie kempeln, bis Hadi Babascheich eingreift. Er setzt Rayan auf seinen Schoß und lehnt sich mit einem Arm auf Alis Rollstuhl. Es ist ein schönes Bild.

Hadi Babascheich ist jesidischen Glaubens, eine alte Religion, die vor allem Kurden in der Türkei und im Nordirak praktizieren. Einmal, als er von einer Taxischicht heimkam, hat Ali ihn gefragt, ob er Khomeini liebt. Der Gastvater antwortete, dass er müde sei und Khomeini außerdem schon tot. Später hat er gesagt: "Ali, wenn jemand Hilfe braucht, ist es egal, was für eine Religion er hat."

Ali und Rayan werden Prothesen bekommen. Rayans neue Hand wird durch Lederriemen mit seiner Schulter verbunden, dann kann er sie öffnen und schließen. Die Ärzte sagen, das sei vor allem wichtig, damit er sich vollständiger fühlt. Sehen wird er nie mehr. Ende Mai fliegt er zurück. Ali hat im Juni noch eine Operation in Hamburg. Die Spezialisten werden versuchen, seine Harnröhre wiederherzustellen, damit er den Katheder nicht mehr braucht. Sein künstliches Bein wird ein Kniegelenk haben. Es wird keine dieser intelligenten Prothesen sein, wie sie die US-Streitkräfte von einer deutschen Firma kaufen. Die Soldaten können damit Rad fahren. So ein C-Leg wird von einem Mikroprozessor gesteuert, den eine Batterie speist.

Im Irak würde Ali keiner den Chip auswechseln oder eine neue Batterie einsetzen. "Das ist nichts für da unten", sagt Ehrenbrink. Aber auch mit der mechanischen Prothese wird Ali laufen können. In Basra habe er sogar Fußball gespielt, erzählt er. Im Tor mit zwei Armstützen. Und bald also ohne.

Ali würde trotzdem lieber erst fahren, wenn es ruhiger ist in Basra. Die Ruhe ist das, was ihn in Osnabrück am meisten beeindruckt. Die Vögel, ab und zu ein Auto. In Basra hat er sich mal eine Nacht auf dem Klo eingeschlossen, als die Explosionen so laut waren.

Die Lage im Irak ist etwas weniger schlimm geworden. Aber Ende April hat die britische Regierung verkündet, dass sie ihre Truppen im Südirak doch nicht so schnell reduzieren will wie geplant. Sie fürchtet, dass die irakischen Regierungssoldaten nicht mit den Kämpfern des schiitischen Predigers Moktada al-Sadr fertig werden. Hadi Babascheich sagt, er glaube, dass Alis Familienangehörige Al-Sadr-Anhänger sind.

Neulich hat Rayans Vater bei Hadi Babascheich angerufen. Er hat vorgeschlagen, dass sein Sohn in Deutschland bleibt. Der Gastvater hat gesagt, dass das nicht geht. Ein Kind gehört zu seiner Familie.

Aber was soll aus ihnen werden? Von einer Blindenschule in Rayans Heimatstadt hat noch niemand etwas gehört. In Basra, sagt Ali, mussten seine Eltern darum kämpfen, dass er überhaupt in die Schule darf, weil ihm ein Bein fehlt. Und die Prothese, sie wird ja nicht mitwachsen. Er kann doch nicht immer mal einfliegen zum Anpassen. Basra - Osnabrück und zurück, so leicht ist das nicht, auch wenn die Fluggesellschaft sie kostenlos mitnimmt.

Fragt man Michael Clasen nach der Zukunft der Jungen, sagt er nichts. Der Redakteur hat einen festen Blick. Er hält ihn. Er will dreißig Kinder holen dieses Jahr. Er plant ein Friedenskonzert im nordirakischen Erbil, um Geld zu sammeln. Er will den Irakern zeigen, dass die Ungläubigen ihren Kindern helfen, egal ob sie aus schiitischen, sunnitischen oder kurdischen Familien stammen.

Neulich hat Ali zu seinem Gastvater gesagt: "Hadi, später kommst du mal zu uns nach Basra. Und abends grillen wir Fisch."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.