„Supertolle Hoffnung, prekäre Gegenwart“

MALOCHE Es gibt wieder Jobs – 2015 war die Arbeitslosigkeit in Berlin so gering wie seit 1991 nicht. Allerdings gibt es immer wenigerso genannte Normalarbeitsverhältnisse, also immer weniger gute Arbeit, sagt Doro Zinke, DGB-Chefin in Berlin und Brandenburg

Die Zukunft ist ungewiss: Es gibt mehr Arbeit, aber wo geht die Arbeit hin, wie wird sie sich verändern? Foto: Lukas Schulze/dpa

Interview Alke Wierth

taz: Frau Zinke, die Arbeitslosigkeit in Berlin war 2015 so niedrig wie zuletzt 1991. Es gibt wieder neue Jobs. Entsteht da die „gute Arbeit“, die die Gewerkschaft fordert?

Doro Zinke: Gute Arbeit ist das in vielen Fällen nicht. Etwa in den so hoch gelobten Start-ups: keine Tarifbindung, keine Betriebsräte. Supertolle Hoffnung auf die Zukunft, prekäre Gegenwart. Der Anteil nicht tarifgebundener Unternehmen ist hier in Berlin so hoch wie sonst nirgendwo in der Bundesrepublik. Das hat sich auch gezeigt, als nach der Einführung des Mindestlohns die Gehälter prozentual mehr als anderswo gestiegen sind.

Neue Jobs entstehen auch im Hotel- und Gastronomiebereich und im Einzelhandel.

Kaum jemand macht diese Arbeit über längere Zeit. Da arbeiten viele Studierende, die etwas zu ihrem Lebensunterhalt dazuverdienen müssen. Viele arbeiten in 450-Euro-Jobs oder schwarz, gerade im Hotel- und Gaststättenbereich. Selbst gelernte Köche arbeiten teils für 450 Euro und bekommen den Rest schwarz auf die Hand.

Heißt das, wir haben eine Zunahme an Jobs, aber kein Wachstum beim Einkommen?

Im Durchschnitt wächst das Einkommen. Es kommt viel Verwaltung nach Berlin, etwa von Großunternehmen oder im öffentlichen Dienst. Da wird noch ordentlich bezahlt, das sind gute Jobs. Die und der Mindestlohn haben den Lohndurchschnitt in Berlin angehoben.

Wo hat der Mindestlohn sich positiv ausgewirkt?

Überall dort, wo vorher weniger gezahlt wurde: bei Friseuren, Floristen, im Einzelhandel, etwa den Bäckereien, zum Teil auch im Hotel- und Gaststättengewerbe. Es wird aber immer noch versucht, ihn zu unterlaufen: beispielsweise durch extrem knappe Zeitvorgaben bei der Reinigung von Hotelzimmern, die dazu führen, dass die Leute länger als bezahlt arbeiten, wenn sie ihre Arbeit nicht schlampig machen wollen.

Was bedeutet Arbeit in einer Gesellschaft, die immer weniger Menschen braucht, um immer mehr Waren zu produzieren und Dienstleistungen zu erzeugen? Wie hat sich der Mindestlohn ausgewirkt? Sind Ehrenamt und Freiwilligendienste inzwischen die neuen Sinnstifer? Und wie verteilt sich die Familienarbeit auf Männer und Frauen?Diesen und anderen Fragen sind wir in den vergangenen Tagen nachgegangen. Heute erscheint der letzte Teil. (taz)

Sind wir also arbeitsmarktpolitisch auf einem guten Weg in Berlin? Es ist ja auch die Jugendarbeitslosigkeit zurückgegangen.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist insgesamt besser geworden. Für das kommende Jahr hat sich die Arbeitssenatorin das Motto „Gute Arbeit“ auf die Fahnen geschrieben. Das ist nur mit Arbeitsmarktpolitik nicht zu machen; dazu gehört eine Arbeitspolitik. Die muss ressortübergreifend umgesetzt werden: Die Förderungen in der Wirtschaftspolitik müssen sich auch am Maßstab von Arbeitsqualität messen lassen.

Immer mehr Leute haben mehrere Jobs, arbeiten rund um die Uhr und am Wochenende.

Da passieren üble Sachen, beispielsweise im Einzelhandel. Da werden Arbeitsverträge über zehn Stunden die Woche vergeben, und die Arbeitnehmer haben rund um die Uhr auf Abruf zur Verfügung zu stehen. Wir hatten hier jemanden in der Beratung, der null Stunden im Vertrag stehen hatte und immer einspringen sollte, wenn jemand anders ausfiel.

Und das ist legal?

Zehn Stunden sind legal, null Stunden halte ich für nicht legal. Aber im Einzelhandel haben viele Beschäftigte schon aufgegeben, von Zeitautonomie zu träumen. Viele müssen an jedem Wochentag bis auf Sonntag und fast rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Wir erleben jetzt schon, dass im Einzelhandel gerade in den Spätschichten mit Leiharbeitsfirmen gearbeitet wird. Deren Beschäftigten werden dann keine Spätarbeits- oder Überstundenzuschläge gezahlt. Auch so werden Tarifverträge umgangen.

Vielen ArbeitnehmerInnen ist es recht, abends, nachts oder am Wochenende zu arbeiten.

Die Arbeitslosigkeit in Berlin ist 2015 auf den niedrigsten Stand seit 1991 gefallen. Im Durchschnitt waren 194.800 Frauen und Männer ohne Beschäftigung registriert. Die Arbeitslosenquote lag damit bei 10,7 Prozent nach 11,1 Prozent im Jahr zuvor. Das teilte die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit am Dienstag mit. Auch für dieses Jahr erwartet die Agentur sinkende Arbeitslosenzahlen und mehr sozialversicherungspflichtige Jobs in Berlin. (dpa)

Das, was wir früher Normalarbeitsverhältnis nannten, der 9-to-5-Job, ist bei neuen Jobs inzwischen die Ausnahme. Wir müssen uns deshalb heute über Themen streiten, von denen wir in der Vergangenheit überhaupt nicht gedacht hatten, dass sie zweifelhaft sind. Damit hat sich die Diskussion über die Notwendigkeit von Gewerkschaften, die es vor 20, 30 Jahren mal gab, erledigt: Wir sind heute auf ganz andere Art und Weise nötig geworden.

Es gibt aber auch die Angst –auch auf Arbeitnehmerseite –, dass die Gewerkschaft zu viel reglementieren will.

Wir fordern doch keine Reglementierungen, die die Arbeitnehmer nicht wollen. Das ist eine antiquierte Vorstellung. Wir haben ein Wachstum an Mitgliederzahlen bei jüngeren Beschäftigten.

Auch wenn das so ist: Fürchten Sie nicht, dass mit wachsender Einwanderung immer genug Arbeitskräfte da sind, die aus Not oder Unkenntnis bereit sind, jeden Job anzunehmen?

Über die Qualifikation der Geflüchteten liegen uns noch keine sicheren Informationen vor. Viele Arbeitgeber träumen jetzt von Fachkräften, die sie nicht selber ausbilden mussten. Damit da nicht schlecht bezahlt wird, brauchen wir Beratungsstellen, damit die Neuankömmlinge wissen, was ihnen zusteht. Ich glaube nicht, dass die alle gern für ganz wenig Geld arbeiten wollen.

Doro Zinke

Foto: Techen/DGB

61, studierte Politik, Soziologie und Osteuropäische Geschichte und ist seit 2010 Chefin des DGB Berlin- Brandenburg.

Und eine hohe Zahl von AusbildungsabbrecherInnen.

Ja: In Berlin skandalöse 40 Prozent! Viele der Abbrecher lernen im gleichen Beruf, aber woanders weiter. Sie sind also nicht mit der Berufswahl, sondern mit den Zuständen in den Ausbildungsunternehmen unzufrieden. Das ist sehr bedenklich. Wenn Arbeitgeber von Azubis verlangen, Berufsschultage nachzuarbeiten, Berichtshefte in der Freizeit auszufüllen oder Sicherheitsschuhe selbst zu zahlen, dann geht das nicht.

Hat das etwas zu tun mit einer veränderten Haltung der Azubi-Generation gegenüber dem Thema Arbeit?

Wir machen ja einen jährlichen Ausbildungsreport, bei dem wir Jugendliche an Berufsschulen befragen. Die Einstellung der jungen Leute gegenüber Arbeit hat sich demnach nur in einem Punkt geändert: Sie sind pragmatischer geworden. Sie wählen die Berufe, in denen Ausbildungsplätze angeboten werden.